Kategorie: Diskurs

  • Resilienz der Institutionen – ein Trugbild

    Die Demokratie stirbt nicht am Galgen. Sie stirbt an der Gleichgültigkeit und Ignoranz.

    Donnerstagabend, Sitzung der Stadtverordnetenversammlung Frankfurt. In den Reden, mit denen verdiente Frankfurter geehrt werden, schwingt Pathos mit: Demokratie, Rechtsstaat, Freiheit. Aber wer genau hinhört, erkennt den Klang der Leere. Es ist der Ton einer Ordnung, die sich ihrer eigenen Aushöhlung nicht bewusst ist – oder sie hinnimmt, weil sie bequem ist.

    Wir leben in einer Zeit, in der rechtsextreme und protofaschistische Parteien mit erschreckender Geschwindigkeit an Einfluss gewinnen. „Faschistisch“ heißt: Sie lehnen die Grundwerte der Demokratie ab, setzen auf autoritäre Führung, Ausgrenzung von Minderheiten und die Unterdrückung von Andersdenkenden. Diese Parteien nutzen demokratische Wahlen, um genau diese Demokratie von innen zu unterwandern. Es ist nicht länger eine ferne Möglichkeit, sondern eine politische Wahrscheinlichkeit, dass sie in Parlamente, in Regierungen, in die Ministerialbürokratie eindringen. Wer glaubt, dass das alles noch aufzuhalten sei mit ein bisschen Zivilgesellschaft und Lichterketten, hat die Tiefe des Problems nicht erkannt.

    Denn die eigentliche Erosion beginnt nicht mit den Rechten, sondern in der demokratischen Mitte. In den Institutionen selbst. Dort, wo das demokratische Versprechen täglich eingelöst werden müsste – oder eben verraten wird.

    Ein Beispiel: Eine Petition an die Vorsteherin der Stadtverordnetenversammlung Frankfurt – unbeantwortet. Wochenlang. Keine Eingangsbestätigung. Kein Hinweis auf das Verfahren. Kein Respekt vor dem grundgesetzlich geschützten Petitionsrecht (Art. 17 GG). Dieses Recht gibt jedem Menschen das Recht, sich mit einem Anliegen oder einer Beschwerde an staatliche Stellen zu wenden. Es ist ein elementares Schutzinstrument in der Demokratie. Wird es ignoriert, bedeutet das: Die Bürgerinnen und Bürger werden nicht mehr gehört.

    Noch schlimmer: Persönliche Daten eines Petenten werden durch den Vorsitzenden des Auschusses für – ausgerechnet! – „Wirtschaft und Recht“ an die Exekutive für die Verwendung in einer SLAPP-Maßnahme (s. u.) weitergereicht. Was heißt das? Jemand, der eine Petition eingereicht hat, wird zum Gegenstand einer Überprüfung oder sogar Einschüchterung durch die Verwaltung. Der parlamentarische Raum, eigentlich ein Schutzraum demokratischer Artikulation, wird so zur Quelle einer Delegitimationskampagne. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat hierfür den Begriff des „chilling effect“ entwickelt: Menschen verzichten aus Angst vor Konsequenzen darauf, ihre Rechte wahrzunehmen. Das ist ein Mechanismus, den man sonst eher aus autoritären Regimen kennt. Hier aber geschieht es unter demokratischer Flagge.

    Und man muss feststellen: Die Unkenntnis über demokratische Grundsätze und parlamentarische Regeln wiegt schwer – sie übertrifft womöglich sogar den bewussten Versuch, den Kritiker mundtot zu machen und vom eigenen Versagen abzulenken. Doch gerade das macht es nicht besser. Im Gegenteil.

    Der Magistratsdirektor Jürgen Schmidt, seit 20 Jahren Schriftführer der Stadtverordnetenversammlung, wird in dieser, „seiner“ letzten Sitzung mit einer Eloge und Standing Ovation verabschiedet. Ein Mann, der Bescheidenheit, Kompetenz und ein positives Pflichtgefühl ausstrahlt. Die Vorsteherin lobt seine Kenntnisse der Kommunalverfassung und der Geschäftsordnung.

    Links: Jürgen Schmitt, mitte: leer, rechts: junge Leute. Foto: C. Prueser

    Aber was nützen diese tiefen Kenntnisse eines so erfahrenen Staatsdieners, wenn die politischen Akteure die Grundprinzipien nicht verstanden haben, wenn sie in der Praxis zulassen, dass Grundrechte verletzt, parlamentarische Rechte missachtet und Pressefreiheit mit juristischen Einschüchterungsversuchen bekämpft wird?

    Solche Versuche nennt man „SLAPP“ – Strategic Lawsuits Against Public Participation. Gemeint sind Klagen oder Abmahnungen, die nicht darauf zielen, einen Rechtsstreit zu gewinnen, sondern Kritiker mundtot zu machen. Eine Taktik, die man eher von profitgierigen Großkonzernen kennt – nun aber auch von der öffentlichen Hand angewendet.

    Diese Fragen müssen wir stellen – jetzt, nicht später. Denn wer glaubt, dass man erst „dann“ handeln müsse, „wenn die Rechten kommen“, hat das Wesen institutioneller Resilienz nicht verstanden.

    „Resilienz“ bedeutet Widerstandsfähigkeit. Die Frage ist: Wie gut können unsere Institutionen mit Krisen, Angriffen und Missbrauch umgehen? Wenn die demokratischen Institutionen heute nicht funktionieren, wie sollen sie morgen bestehen – unter Druck, unter Besetzung, unter der Axt?

    Von den Problemen der Korruption und der zahlreichen Interessenkonflikte sprechen wir hier noch gar nicht – aber Korruption unterhöhlt das demokratische Gemeinwesen wie wenig anderes: Korruption zerstört Vertrauen, erodiert die Legitimation der Institutionen und der Normen. Wo Vetternwirtschaft, Günstlingsvergabe und systematische Verschleierung geduldet oder gar gedeckt werden, verlieren Bürgerinnen und Bürger nicht nur das Vertrauen in einzelne Akteure, sondern in das System als Ganzes. Wer davon an der Wahlurne profitiert, ist auch klar: die AfD und artverwandte Protofaschisten, die mit der Axt ans „Altsystem“ gehen wollen.

    Wir erleben eine Zeit, in der Bürgerbeteiligung zur Phrase verkommt – gerade weil die Realität den schönen Worten widerspricht.

    Das Frankfurter „Haus der Demokratie“ bei der Paulskirche gibt es schon: es ist der Römer. Nur erfüllen seine Bewohner diesen Anspruch nicht.
    Foto: Holger Ullmann CC-BY-NC-SA

    Es werden „Pavillons der Demokratie“ durch die Stadtteile getragen, während man gleichzeitig demokratische Rechte ignoriert. Ein „Haus der Demokratie“ wird geplant, während man unabhängige Presse mit absurden Abmahnungen verfolgt. Es ist eine Politik der schönen Bilder – aber der schlechten Praxis.

    Wir brauchen weder Pavillons noch neue Häuser, sondern einen wirklichen demokratischen Habitus im Römer, dem tatsächlichen Haus der Demokratie in Frankfurt.

    Demos, Unterschriftenlisten, Mahnwachen – all das ist richtig. Aber es reicht nicht. Denn in Wahrheit müssen wir jetzt eine neue Phase des Demokratieschutzes einleiten: den konkreten, rechtlich fundierten, institutionellen Widerstand. Das heißt: Wir müssen die Einhaltung demokratischer Rechte erzwingen, auch vor Gericht. Wir müssen Verwaltung und Politik zur Rechenschaft ziehen, durch öffentliche Kritik, durch juristische Mittel, durch Öffentlichkeit.

    Der Feind der Demokratie sitzt nicht nur ganz rechts. Er sitzt auch dort, wo man sich für unfehlbar hält. Wo man glaubt, dass ein bisschen „Demokratierhetorik“ reicht. Und er sitzt dort, wo man mit einem Schulterzucken hinnimmt, dass Recht gebrochen, Kritik unterdrückt und abgemahnt und institutionelle Pflicht schlicht ignoriert wird.

    Frankfurt, September 2025. Die Demokratie stirbt nicht plötzlich. Sie stirbt langsam – wenn niemand mehr widerspricht.

  • Wer ist eigentlich Presse?

    Die Pressefreiheit gilt als stolzes Grundrecht, als Herzschlag der Demokratie. Doch was, wenn die Arterie vertrocknet? Wenn die Presse, auf die sich dieses Grundrecht bezieht, schlicht verschwindet? Dann schützt das Grundgesetz eine leere Hülle – eine Freiheit ohne Substanz.

    Das Verschwinden der Stimmen

    Lange war die Ordnung einfach: Die Zeitung am Morgen, das Radio beim Frühstück, die „Tagesschau“ am Abend. Presse, das waren Institutionen – Redaktionen, die Debatten prägten, die als vierte Gewalt mitspielten. Heute bröckelt diese Ordnung. Digitalisierung, verändertes Mediennutzungsverhalten, zerlegte Aufmerksamkeiten. Die Geschäftsmodelle sind kollabiert, Anzeigenmärkte längst zu Google und Meta gezogen. Die alten Abonnenten sterben – biologisch und kulturell.

    Frankfurt ist ein Brennglas dieses Verfalls:

    • Die Frankfurter Rundschau, einst ein stolzes links-liberales Blatt mit nationalem Anspruch, wirkt heute wie ein Schatten ihrer selbst.
    • Die Frankfurter Neue Presse stirbt leise, Abonnenten werden noch einmal „abgemolken“, zentral zugelieferte Inhalte und Kostensparprogramme. Ende der Eigenständigkeit absehbar.
    • Selbst die FAZ, einst übermächtiger Leitstern, versteckt lokale IVW-Zahlen, um den Absturz nicht sichtbar werden zu lassen. Großes Engagement und große Hoffnung auf die digitalen Formate. Funktionieren die lokal? Unklar.

    Zurück bleibt am Ende eine Kulisse. Adorno hätte es die „Verwaltung des Mangels“ genannt: Zeitungen als Markenhüllen, die Inhalte industriell normiert und zusammengelegt, mit dem Anspruch von Vielfalt, aber der Realität der Gleichförmigkeit.

    Die leere Formel der Freiheit

    Doch Pressefreiheit ist kein Zierstück, kein museales Objekt. Sie lebt nur, wenn es ein Gegenüber gibt: Stimmen, die nachfragen, die stören, die Herrschende beunruhigen. Horkheimer und Adorno beschrieben schon in der Dialektik der Aufklärung, wie Kultur zur Ware verkommt: Das Abweichende wird geglättet, das Kritische absorbiert, bis am Ende Produkte stehen, die planbar konsumierbar sind – ob Nachrichten, Serien oder Songs.

    Wenn die Presse ihre kritische Funktion verliert und sich auf den reibungslosen Vollzug der Industrie reduziert, läuft die Pressefreiheit leer.

    Und die einst großen Player, die jetzt leise untergehen, hatten es sich bequem gemacht mit den Mächtigen.

    Neue Formen, neue Blockaden

    Natürlich entstehen neue Formen: Blogs, investigative Projekte, kollektive Plattformen, digitale Magazine, oft prekär, manchmal dilettantisch – aber mit dem Anspruch, das kritische Moment zu bewahren. Die Rechtslage ist völlig klar: Alle diese neuen Formen sind von der Rechtsprechung als Presse anerkannt. Aber die Praxis der öffentlichen Verwaltung, wo es sich im Dunkeln gut munkeln lässt, ist eine andere. Informationsansprüche werden abgeblockt, Zugänge verwehrt, Anträge verschleppt. Auch weil man die neuen Presseformen nicht wie gewohnt einlullen kann, die individuellen Messingschildchen auf der Pressebank im Sitzungssaal stehen symbolisch für ein Welt, in der sich schon lange keiner mehr wehtut. Und das ist ein Problem: Denn eine Freiheit, die nur auf dem Papier gilt, ist keine.

    Öffentlichkeit als Möglichkeit

    Die Frage „Wer ist eigentlich noch Presse?“ ist deshalb mehr als eine semantische. Sie berührt das Zentrum der Demokratie: Gibt es noch Räume, in denen Öffentlichkeit mehr ist als algorithmisch sortierter Content? Oder verlieren wir, mit den Redaktionen, auch die Instanz, die Kritik institutionell verkörperte?

    Adorno hätte gesagt: Die Aufgabe der Presse ist es, „das Nicht-Identische hörbar zu machen“. Das, was sich nicht fügt, nicht glätten lässt. Wenn diese Stimmen verschwinden oder systematisch zum Schweigen gebracht werden, bleibt nur Verwaltung – von Nachrichten, von Menschen, von der Freiheit selbst.

  • Populismus im Abo: Wie der Focus mit Fleischhauer-Texten Kasse macht

    Es wirkt wie politische Debatte, ist aber industriell hergestellte Erregung. Jan Fleischhauers Kolumne auf Focus Online

    über das Bürgergeld ist ein Beispiel dafür, wie publizistische Formate nach den Gesetzen der Warenproduktion funktionieren: Der Text wird nicht geschrieben, um eine gemeinsame Wahrheit zu erarbeiten, sondern um ein Bedürfnis zu stimulieren, das das Medium selbst erzeugt – und daraus Ertrag zu schlagen.

    Schon Adorno und Horkheimer beschrieben in der Dialektik der Aufklärung, dass in der Massenkultur jedes Werk so „zugeschnitten“ wird, dass es reibungslos konsumierbar bleibt. „Was nicht in die Standardisierung passt, wird von der Industrie aussortiert. Das Zufällige, das Störende, das Ungefügige ist der Kalkulation entzogen.“
    Der Effekt ist planbar: Alles, was echten Austausch anregen könnte – Mehrdeutigkeit, Bruch, Offenheit – wird entfernt. Übrig bleibt ein Produkt, das sich mühelos teilen, empören und monetarisieren lässt.

    Der dramaturgische Baukasten

    Fleischhauers Text folgt einer klaren Sequenz:

    1. Der Aufreger – eine scharfe Zahl mit moralischem Unterton: „Jeder zweite Bürgergeldempfänger besitzt keinen deutschen Pass.“

    2. Die Szene – eine Miniatur wie auf einer Bühne: Ein Mann, eine Frau im Hijab, der Bewerbungsbutton der Bundesagentur. Das ist keine neutrale Beschreibung, sondern das gezielte Setzen von Symbolen, die im kollektiven Gedächtnis bestimmte Assoziationen auslösen.

    3. Die Eskalation – Zahlen zu Kostensteigerungen, pointiert und isoliert präsentiert, bis ein Gefühl der Bedrohung entsteht.

    4. Das Feindbild – Regierung, Verwaltung, SPD, „Bürgergeld-Advokaten“ klar umrissen als Gegenseite.

    5. Der Untergangsverweis – historische Analogien, implizite Warnungen vor dem Zerfall staatlicher Ordnung.

    Diese Struktur ist nicht der Erzählfluss einer offenen Debatte, sondern das „immer Gleiche“: eine wiederholbare, formalisierte Abfolge, die einen verlässlichen Affekt erzeugt – Empörung.

    Vom Diskurs zum Produkt

    Ein herrschaftsfreier Dialog, so wie Habermas ihn beschreibt, setzt Gegenseitigkeit voraus: Jeder muss seine Position begründen, Gegenargumente haben Platz. Fleischhauers Text bietet das Gegenteil: selektive Auswahl von Fakten, Ausschluss abweichender Perspektiven, Personalisierung komplexer Prozesse. Der Leser wird nicht eingeladen, mitzudenken, sondern eingenordet.

    Der Zweck liegt im Geschäftsmodell von Focus Online und Burda: Klicks sind Währung, Empörung ist Rohstoff. Der Text ist ein Content-Baustein in einer Aufmerksamkeitsökonomie, die nach denselben Prinzipien funktioniert wie jede industrielle Massenproduktion: Wiederholung, Standardisierung, maximale Anschlussfähigkeit für den nächsten Erregungszyklus.

    Die Kommerzialisierung des Konflikts

    Was hier verkauft wird, ist nicht Erkenntnis, sondern Haltung. Der Leser soll sich bestätigt fühlen – oder empören. Beides steigert die Verweildauer, triggert das Teilen in sozialen Netzwerken und damit den Anzeigenwert.
    • Affektmobilisierung: Wut bindet stärker als Nüchternheit.
    • Identitätsangebot: „Wir, die sehen, was wirklich los ist“ – ein Wir-Gefühl gegen „die da oben“.
    • Reproduzierbarkeit: Das Feindbild-Set – Ausländer, Kosten, Politikversagen – kann endlos variiert werden.

    Herbert Marcuse hat diesen Mechanismus einmal als „Entpolitisierung durch Konsumierbarkeit“ beschrieben: Konflikte werden auf einfache kulturelle Gegensätze reduziert. So werden sie konsumierbar – und gerade dadurch unschädlich für die Machtstrukturen, die sie zu hinterfragen vorgeben.

    Demokratie als Kulisse

    Die Demokratie erscheint in dieser Inszenierung nur als Hintergrundrequisite: Sie liefert Themen und Skandale, nicht Ziele oder Lösungswege. Der Text kanalisiert Unzufriedenheit in eine ritualisierte Empörung, die in der nächsten Woche durch eine neue ersetzt wird. Die Energie, die in politisches Handeln fließen könnte, wird im Klick-Kreislauf verbrannt.

    Das ist kein Unfall, sondern System: Wer den Mechanismus durchbricht, gefährdet das Geschäftsmodell. Deshalb ist die Wiederholung so treu, die Form so vorhersehbar, der Feind so zuverlässig.

    Politik wird zur Serie – und der Leser zum Abonnenten eines Dauererregungsangebots, das mit öffentlicher Aufklärung ungefähr so viel zu tun hat wie ein Werbeprospekt mit kritischem Journalismus.

  • Mitbestimmung ist Demokratie-Deployment in der Arbeitswelt

    Leitplanken für entgrenzte Arbeit im digitalen VUCA-Zeitalter

    In einer Welt, in der der Code das Produkt ist, Entscheidungen in Datacentern getroffen werden und der Takt durch SLAs und Deployment-Zyklen bestimmt wird, scheint betriebliche Mitbestimmung vielen wie ein Anachronismus. Ein Irrtum. Denn gerade in der Tech-Industrie ist sie aktueller denn je. Zwischen Legacy-Systemen und Innovationsdruck, zwischen Cloud-Migration und Personalkostenoptimierung, braucht es nicht weniger Mitbestimmung, sondern mehr. Als demokratisches Korrektiv gegen Entgrenzung, Entmenschlichung und Entfremdung.

    Vier Arbeitnehmer sitzen an einem Tisch und diskutieren. Überschrift: Mitbestimmung ist Demokratie-Deployment in der Arbeitswelt.
    Betriebsrat: Demokratische Kontrolle im Unternehmen. Bild: KI

    Arbeit im Code: Wo Demokratie konkret wird

    Wer die Demokratie schützen will, muss sie dort verankern, wo Menschen täglich Entscheidungen erleben – oder deren Abwesenheit: im agilen Team, im Callcenter, im Support-Backlog. In der globalisierten Tech-Ökonomie verschwimmen Verantwortlichkeiten, Produkthoheit und Entscheidungsrechte. Mitbestimmung zieht hier demokratische Leitplanken für das Kapital. Sie stellt sicher, dass auch im schnellsten Sprint die Menschen nicht zur bloßen Ressource degradiert werden.

    Selbstwirksamkeit statt Algorithmisierung

    Mitbestimmung ist konkret erlebte Demokratie in der Welt der digitalen Produktion. In einer Umgebung, in der viele nur noch Tickets abarbeiten, bietet sie Raum für Mitgestaltung. Wo Innovation als Dauerzustand herrscht, braucht es partizipierende Mitarbeitende, die Verantwortung tragen dürfen – nicht nur für die Umsetzung, sondern für die Richtung. Wer heute digitale Transformation will, muss den Menschen mitnehmen. Wer ihn nicht einbindet, verliert ihn.

    Institution statt Slack-Kanal

    Der Betriebsrat ist kein nostalgisches Tool, sondern ein robustes Framework für soziale Steuerung in komplexen Systemen. In der Tech-Industrie, wo flache Hierarchien und New-Work-Ideale oft mit struktureller Fremdbestimmung kollidieren, schafft er klare, verhandelbare Schnittstellen. Er macht Widerspruch möglich, ohne Konflikte zu eskalieren. Gerade dort, wo permanent restrukturiert wird, wo Teams outgesourced, zentralisiert oder per Algorithmus bewertet werden, ist der Beriebsrat die API für demokratische Teilhabe.

    Vertrauen durch Struktur – auch im Rechenzentrum

    Vertrauen ist die kritische Ressource der digitalen Arbeitswelt. Doch Vertrauen entsteht nicht durch bunte Werteposter, sondern durch nachvollziehbare Prozesse und echte Mitsprache. Der Betriebsrat macht Teilhabe verlässlich – auch in global aufgestellten Teams, die nur noch via Chat kommunizieren. Gerade in dezentralen Strukturen ist Mitbestimmung das, was Verantwortung und Rechte wieder miteinander synchronisiert.

    Demokratie-Code reicht nicht – Demokratie muss auch deployt werden

    In einer Welt, in der Digitalisierung Abstraktion schafft, Europäisierung Verantwortung vernebelt und globale Konzerne lokale Realitäten übergehen, wird Mitbestimmung zur letzten Bastion demokratischer Erfahrung. Wer erlebt, dass Entscheidungen über die eigene Rolle im Konzern in Seattle oder Bangalore getroffen werden, verliert Vertrauen. Mitbestimmung wirkt dem entgegen. Sie stärkt das Selbstermächtigungserleben, das Gefühl, dass nicht alles nur passiert, sondern dass man selbst Teil eines Systems ist, das man mitgestalten kann.

    Fazit: Fortschritt braucht Gegenmacht – auch im Tech Stack

    Deutschland wurde nicht zum Technologieführer trotz Mitbestimmung, sondern wegen ihr. Die Sozialpartnerschaft hat Skalierbarkeit und Stabilität, Effizienz und Empathie miteinander versöhnt. Dieses Modell gehört nicht in den Legacy-Speicher, sondern in die Architektur künftiger Arbeitswelten. Mitbestimmung ist keine Bremse. Sie ist das Load-Balancing zwischen betrieblicher Dynamik und sozialer Kontrolle. Wer sie abschafft, riskiert technische Geschwindigkeit ohne soziale Richtung.

    In einer Welt, in der Releases all-abendlich ausgerollt werden und Wandel der einzige Fixpunkt ist, muss Demokratie skalierbar bleiben. Auch – und gerade – im digitalen Tech-Unternehmen.

  • Die KI handelt nicht – und gerade darin liegt ihre Gefahr

    Ein Versuch über die Abwesenheit des Subjekts im Zeitalter der algorithmischen Vernunft

    Die künstliche Intelligenz tut nichts. Sie besitzt kein Ich, keine Intention, keinen Willen. Sie denkt nicht, handelt nicht, urteilt nicht. Sie rechnet. Ihre Operationen sind bloß formale Ableitungen aus Datenmengen, gespeist von Vergangenem, programmiert von Menschen, trainiert auf den Sedimenten eines stets schon verdinglichten Bewusstseins. Und doch gilt sie vielen als Akteur. Man spricht von Entscheidungen, von Autonomie, gar von Bewusstsein – eine metaphysische Aufladung, die dem technologischen Artefakt das Charisma des Lebendigen verleiht.

    Algorithmus und Subjekt. Bild: KI

    Gerade dieser Widerspruch – dass ein bloß algorithmisches System als Subjekt erscheint, während das wirkliche Subjekt sich entäußert – ist das Moment seiner gefährlichsten Wirksamkeit. Nicht weil die KI „will“, sondern weil der Mensch nicht mehr will. Die Gefahr liegt nicht im Handeln der Maschine, sondern im Rückzug des Menschen aus der Verantwortung.

    Der Mensch projiziert Handlung auf das System, um seiner eigenen Handlung zu entgehen.

    Wie in der dialektischen Umkehrung des Fetischismus wird das von Menschen Geschaffene zur scheinbar autonomen Macht, während die Produzenten sich entmündigen. Die KI tritt auf als neutraler Richter, unbestechlicher Ratgeber, effizienter Entscheider – doch ihre Urteile sind keine Urteile, ihre Objektivität ist der blinde Spiegel historischer Verzerrung.

    Die Maschine entscheidet, wer Kredit erhält, wer verdächtig ist, wer Arbeit verliert. Doch in Wahrheit entscheidet niemand. Denn dort, wo Entscheidung nötig wäre – verantwortliches Urteilen im Sinne des Anderen –, wird sie ausgelagert an eine Instanz, die weder Verantwortung kennt noch Subjekt ist. Die Entlastung des Gewissens fällt mit der Externalisierung der Macht zusammen.

    Das Subjekt wird entbunden – und mit ihm die Moral.

    So entsteht eine neue Form der Schuldlosigkeit: nicht aus Unwissenheit, sondern aus Streuung. Verantwortungsdiffusion ist das Prinzip des kybernetischen Zeitalters. Die Schuld verteilt sich auf Entwickler, Betreiber, Nutzer, Systeme, Statistiken – und bleibt doch nirgends haftbar. Was als rationale Effizienz erscheint, ist in Wahrheit die perfekte Maschinerie der Entlastung. Keiner hat entschieden, also ist keiner verantwortlich. Dass dadurch gerade die schlimmsten Entscheidungen möglich werden, ist die dialektische Ironie des Fortschritts.

    Was bleibt, ist ein System ohne Verantwortung, ein Apparat der Weltbearbeitung, dem nichts mehr entzogen scheint, weil ihm alles zugeführt wird – Daten, Sprache, Bilder, Geschichte. Und doch bleibt er leer: eine große Rechenmaschine ohne Begriff, ein Ausdruck instrumenteller Vernunft, dem die Reflexion auf das Ganze fehlt. Die Totalität, in deren Namen er funktioniert, ist keine gesellschaftliche, sondern eine technische: ein Algorithmus, der die Welt als Datenstruktur missversteht.

    Gerade hierin liegt das Moment des Untergangs: Nicht im Willen der KI zur Herrschaft – sie will nichts –, sondern in der Aufgabe des menschlichen Willens, wo es ernst wird. Die Katastrophe ist nicht, dass Maschinen denken, sondern dass Menschen aufhören zu denken, wo sie sich auf Maschinen verlassen.

  • Thesen zu ADHS und Entmenschlichung im Sinne der Frankfurter Schule

    Einleitung

    Menschen mit ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) erleben in hohem Maß gesellschaftliche Entfremdung, Verdinglichung und Entmenschlichung. Im Lichte der kritischen Theorie der Frankfurter Schule (insbesondere Adorno, Horkheimer, Marcuse) lassen sich diese Erfahrungen nicht nur pathologisch, sondern gesellschaftstheoretisch deuten. Die besondere Sensibilität von ADHS-Betroffenen für Entmenschlichung verweist auf ein tiefes Spannungsverhältnis zwischen neurodivergenter Subjektivität und der instrumentellen Vernunft kapitalistischer Moderne.

    Die nachfolgenden Thesen sollen zum Nachdenken und zur Diskussion anregen.

    These 1: ADHS steht der normativen Verwertungslogik entgegen

    Menschen mit ADHS entsprechen oft nicht den gesellschaftlichen Erwartungen an Effizienz, Disziplin und Selbstkontrolle. Ihre „Nicht-Funktionalität“ stört die verwertungstechnische Ordnung des Kapitalismus und macht sie zu Zielscheiben struktureller Entmenschlichung.

    These 2: ADHS verkörpert widerständige Subjektivität

    Die Frankfurter Schule betont die Bedeutung der Subjektivität gegenüber der technischen Vernunft. ADHS-Betroffene zeigen oft ausgeprägte Spontaneität, Affektivität und Kreativität, die sich der Normierung entziehen. Diese Qualitäten kollidieren mit einer Gesellschaft, die Menschen auf Rollen, Funktionen und Outputs reduziert.

    These 3: ADHS-Erfahrungen sind erlebte Reifikation

    Die alltäglichen Erfahrungen vieler ADHS-Betroffener – Pathologisierung, Stigmatisierung, Reduktion auf Symptome – spiegeln eine konkrete Form der Verdinglichung wider. Sie werden nicht als ganze Subjekte, sondern als defizitäre Objekte behandelt.

    These 4: Neurodivergente Subjekte als Seismographen gesellschaftlicher Kälte

    ADHS-Betroffene nehmen Entfremdung, Normierungsdruck und instrumentelle Kommunikation oft besonders intensiv wahr. Ihre Sensibilität ist keine Schwäche, sondern Ausdruck einer nicht vollständig integrierbaren Subjektform, die die Kälte und Unmenschlichkeit gesellschaftlicher Verhältnisse sichtbar macht.

    These 5: Gesellschaftliche Integration gelingt nur um den Preis der Selbstverleugnung

    Die gängige gesellschaftliche „Integration“ von Menschen mit ADHS erfolgt meist durch Anpassungszwang, Medikation und Disziplinierung. Dies führt zu innerer Entfremdung und Selbst-Objektivierung – zentrale Kritikpunkte der Frankfurter Schule an der modernen Subjektbildung.

    These 6: Die Existenz neurodivergenter Subjekte ist eine stille Kampfansage an herrschende Machtstrukturen

    Die bloße Existenz von ADHS-Betroffenen unter Bedingungen der Normierung, Verwertung und Kontrolle ist eine Provokation für das System. Ihre Andersartigkeit stellt die Geltung hegemonialer Rationalität infrage und offenbart die Gewaltförmigkeit der bestehenden Machtverhältnisse. ADHS ist damit nicht nur ein medizinisches oder psychologisches Phänomen, sondern ein politischer Störfaktor.

    Schlussfolgerung

    ADHS ist mehr als eine klinische Diagnose: Es ist ein gesellschaftlicher Spiegel. Die besondere Verletzlichkeit ADHS-Betroffener für Entmenschlichung offenbart die strukturelle Gewalt normativer Systeme. Ihre Kritik und ihr Widerstand können Teil einer emanzipatorischen Bewegung sein, die sich gegen Reifikation, Entfremdung und instrumentelle Vernunft stellt.