Kategorie: Feuilleton

Feuilleton

  • Erfolg und Anpassung: Bruce Gilden und das Paradox der Nonkonformität

    „Erfolg ist eine Funktion der Anpassungsleistung.“ Kaum eine Formel beschreibt die Mechanik moderner Gesellschaften treffender. Wer aufsteigt, tut dies in der Regel nicht durch originäre Leistung, sondern durch das geschmeidige Einfügen in Strukturen, durch die Kunst, Erwartungen zu erfüllen. Doch was, wenn der Erfolg auf radikaler Abweichung beruht – wie bei Bruce Gilden?

    Der New Yorker Fotograf, berüchtigt für seine gnadenlosen Blitzaufnahmen aus nächster Nähe, gilt als Inbegriff des Nonkonformismus. Seine Bilder sind Aggressionen gegen das bürgerliche Schönheitsideal: verzerrte Gesichter, Narben, Zähne, die im Blitzlicht schimmern wie Requisiten eines Alptraums. Gilden hat die Regel, dass Street Photography unsichtbar, distanziert, höflich zu sein habe, nie akzeptiert. Sein Werk ist eine permanente Attacke – gegen Passanten, gegen Konventionen, gegen die Idee, man könne das urbane Leben in leiser Eleganz einfangen.

    Und doch: Gilden ist erfolgreich. Er hängt in Museen, wird in Bildbänden kanonisiert, von Magnum aufgenommen. Die Nonkonformität, die ihn auszeichnet, ist längst Teil des kulturellen Angebots geworden. Der Kunstmarkt verlangt nach dem „Anderen“, nach dem Schock des Realen, nach Authentizität als Ware. Gildens Weigerung, sich anzupassen, ist selbst zur Anpassungsleistung geworden: an das System, das den Außenseiter zur Institution erhebt.

    Die Kritische Theorie hätte dieses Paradox kaum treffender beschreiben können. In Gildens Bildern erscheint das Nichtidentische, das, was sich der gesellschaftlichen Glättung widersetzt. Aber im Augenblick seiner Präsentation wird es in die Logik der Verwertung eingesogen: Kataloge, Preise, Sammlerwert. Widerstand, der zur Marke wird, ist noch Widerstand – aber einer, der seine Unschuld verloren hat.

    So zeigt sich an Gilden exemplarisch: Erfolg im Kulturbetrieb ist nicht das Gegenteil von Anpassung, sondern deren höchste dialektische Form. Selbst der radikalste Außenseiter bestätigt, indem er erfolgreich wird, die Regel: Erfolg ist eine Funktion der Anpassungsleistung – selbst dann, wenn er sich als pure Verweigerung geriert.

  • Wer ist eigentlich Presse?

    Die Pressefreiheit gilt als stolzes Grundrecht, als Herzschlag der Demokratie. Doch was, wenn die Arterie vertrocknet? Wenn die Presse, auf die sich dieses Grundrecht bezieht, schlicht verschwindet? Dann schützt das Grundgesetz eine leere Hülle – eine Freiheit ohne Substanz.

    Das Verschwinden der Stimmen

    Lange war die Ordnung einfach: Die Zeitung am Morgen, das Radio beim Frühstück, die „Tagesschau“ am Abend. Presse, das waren Institutionen – Redaktionen, die Debatten prägten, die als vierte Gewalt mitspielten. Heute bröckelt diese Ordnung. Digitalisierung, verändertes Mediennutzungsverhalten, zerlegte Aufmerksamkeiten. Die Geschäftsmodelle sind kollabiert, Anzeigenmärkte längst zu Google und Meta gezogen. Die alten Abonnenten sterben – biologisch und kulturell.

    Frankfurt ist ein Brennglas dieses Verfalls:

    • Die Frankfurter Rundschau, einst ein stolzes links-liberales Blatt mit nationalem Anspruch, wirkt heute wie ein Schatten ihrer selbst.
    • Die Frankfurter Neue Presse stirbt leise, Abonnenten werden noch einmal „abgemolken“, zentral zugelieferte Inhalte und Kostensparprogramme. Ende der Eigenständigkeit absehbar.
    • Selbst die FAZ, einst übermächtiger Leitstern, versteckt lokale IVW-Zahlen, um den Absturz nicht sichtbar werden zu lassen. Großes Engagement und große Hoffnung auf die digitalen Formate. Funktionieren die lokal? Unklar.

    Zurück bleibt am Ende eine Kulisse. Adorno hätte es die „Verwaltung des Mangels“ genannt: Zeitungen als Markenhüllen, die Inhalte industriell normiert und zusammengelegt, mit dem Anspruch von Vielfalt, aber der Realität der Gleichförmigkeit.

    Die leere Formel der Freiheit

    Doch Pressefreiheit ist kein Zierstück, kein museales Objekt. Sie lebt nur, wenn es ein Gegenüber gibt: Stimmen, die nachfragen, die stören, die Herrschende beunruhigen. Horkheimer und Adorno beschrieben schon in der Dialektik der Aufklärung, wie Kultur zur Ware verkommt: Das Abweichende wird geglättet, das Kritische absorbiert, bis am Ende Produkte stehen, die planbar konsumierbar sind – ob Nachrichten, Serien oder Songs.

    Wenn die Presse ihre kritische Funktion verliert und sich auf den reibungslosen Vollzug der Industrie reduziert, läuft die Pressefreiheit leer.

    Und die einst großen Player, die jetzt leise untergehen, hatten es sich bequem gemacht mit den Mächtigen.

    Neue Formen, neue Blockaden

    Natürlich entstehen neue Formen: Blogs, investigative Projekte, kollektive Plattformen, digitale Magazine, oft prekär, manchmal dilettantisch – aber mit dem Anspruch, das kritische Moment zu bewahren. Die Rechtslage ist völlig klar: Alle diese neuen Formen sind von der Rechtsprechung als Presse anerkannt. Aber die Praxis der öffentlichen Verwaltung, wo es sich im Dunkeln gut munkeln lässt, ist eine andere. Informationsansprüche werden abgeblockt, Zugänge verwehrt, Anträge verschleppt. Auch weil man die neuen Presseformen nicht wie gewohnt einlullen kann, die individuellen Messingschildchen auf der Pressebank im Sitzungssaal stehen symbolisch für ein Welt, in der sich schon lange keiner mehr wehtut. Und das ist ein Problem: Denn eine Freiheit, die nur auf dem Papier gilt, ist keine.

    Öffentlichkeit als Möglichkeit

    Die Frage „Wer ist eigentlich noch Presse?“ ist deshalb mehr als eine semantische. Sie berührt das Zentrum der Demokratie: Gibt es noch Räume, in denen Öffentlichkeit mehr ist als algorithmisch sortierter Content? Oder verlieren wir, mit den Redaktionen, auch die Instanz, die Kritik institutionell verkörperte?

    Adorno hätte gesagt: Die Aufgabe der Presse ist es, „das Nicht-Identische hörbar zu machen“. Das, was sich nicht fügt, nicht glätten lässt. Wenn diese Stimmen verschwinden oder systematisch zum Schweigen gebracht werden, bleibt nur Verwaltung – von Nachrichten, von Menschen, von der Freiheit selbst.

  • Zwischen Kölner Bucht und Lower East Side – Patti Smith und BAP in Frankfurt und Hanau.

    Das Alter ist kein bloßes biografisches Detail, sondern ein Resonanzraum. Wer als ergrauter Besucher zwischen die Jüngeren und die Gleichaltrigen tritt, begegnet nicht nur der Musik, sondern auch sich selbst – den verpassten Aufständen, den überstandenen Illusionen, den Restbeständen an Utopie. In diesem Spannungsfeld lagen zwei Abende, die sich kürzlich boten: Patti Smith, die Priesterin des Aufbegehrens, am 18. Oktober 2023 im ausverkauften Zoom in Frankfurt. Und „etwas“ später BAP, Chronisten kölscher Alltagswiderständigkeit, am 15. August 2025 im Amphitheater Hanau, vor gut gefüllten Rängen beim vorletzten Halt ihrer Zeitreise-Tour.

    Patti Smith betritt die Bühne des Zoom in Frankfurt, und plötzlich ist der Raum kein Club mehr, sondern ein Ort der Möglichkeit. Man spürt, dass hier etwas geschieht, das nicht völlig planbar ist. Ihre Stimme bricht und erhebt sich zugleich, ihre Gesten sind ungelenk und heilig, ihre Worte – mal rezitiert, mal geschrien – erinnern daran, dass Kunst mehr sein kann als Unterhaltung. Smith verkörpert den Ernst einer Generation, die gelernt hat, dass Schönheit im Bruch liegt. Ihre Lieder sind Fragmente eines offenen Prozesses: nichts Abgeschlossenes, nichts Fertiges. Hier wird nicht Nostalgie verwaltet, sondern Gegenwart erkämpft. Auffällig: Neben den lebensbegleitenden Fans ziehen ihre Konzerte auch jede Menge junge Leute an, die überraschend selbstverständlich Zugang zu ihrer Kunst finden.

    Von der Princess of Punk zur Grande Dame der Rockmusik:
    Patty Smith im Frankfurter Zoom. Foto: Anton Vester

    Bei Wolfgang Niedecken und BAP, ein ganze Zeit später im Amphitheater Hanau, herrscht ein anderer Ton. Es ist Sommerabend, die Luft riecht nach Bier und Bratwurst, und die Bühne gleicht einem gut eingespielten Ritual. Niedecken spricht, singt, erzählt, wie er es seit Jahrzehnten tut. Die Fans nicken, mitsingen ist Pflicht, der kollektive Schulterschluss programmiert. Man könnte sagen: alles in Ordnung. Aber eben auch: alles schon gehört. Rebellion ist hier zur Folklore erstarrt, Sozialkritik zum Soundtrack der Stammtische mit Wohlgefühlgarantie. Hinterher werdet Ihr Euch vierzig Jahre jünger fühlen, verspricht der Entertainer.

    Tatsächlich: Im Publikum finden sich fast ausschließlich Zuhörerinnen und Zuhörer 50+, für die BAP längst zur eigenen Biografie gehört. Und doch ist dieses Publikum gezeichnet von den Deformierungen durch ein Leben mit Entfremdung, Herrschaft und Verdinglichung.

    Erst nach reichlichem Bierkonsum und wenn die Musik gegen Ende die Emotionen durch Tempo und Greatest-Hit-Eigenschaft befeuert, tritt bei einigen ein schwaches Leuchten in die müden Augen, ein vorsichtiges Erinnern, dass man ein anderes Leben wollte. Für sich und für Carmen, Alexandra, den Jupp und auch für den Müsliman. In der Südstadt, auf der Insel und in der ganzen Welt. Aber es ist irgendwie anders gekommen. Nicht nur am 10. Juni, sondern das ganze Leben.

    Die kritische Theorie spricht von „Verwaltung“: sobald das Widerspenstige sich in Routinen verwandelt, verliert es seinen Stachel. Was bei Patti Smith noch wie ein unberechenbarer Aufbruch wirkt, erscheint bei BAP als kulturelle Betriebsamkeit, die niemandem mehr wehtut. Niedecken singt über Ungerechtigkeit, aber stets so, dass das Publikum zustimmen kann, ohne sich selbst zu hinterfragen. Dabei bleibt er die Antwort schuldig, was denn nun richtig sei:

    »Bliev do, wo de bess / halt dich irjendwo fess / un bliev su, wie de woors / jraad’uss« (Jrad’uss) oder die rezitierte Sentenz »Nur wer sich ändert, bleibt sich selbst treu« (Wolf Biermann). Smith dagegen fordert – mit brüchiger Stimme, mit literarischer Härte – dass man sich einmischt, auch wenn es unbequem ist.

    „The people have the power / to wrestle the world from fools.“

    Wolfgang Niedecken auf einem Boot in der Kölner Bucht vor der Deutzer Brücke
    Wolfgang Niedecken in der Kölner Bucht vor Deutzer Brücke (2020)
    Foto: Tina Niedecken

    Die Dialektik dieses Konzertdoppels: Musik kann zugleich Betäubung und Aufweckruf sein. In Hanau wird das Kollektiv in Sicherheit gewogen, im Zoom in Frankfurt wird es auf See hinausgeschickt. Die eine Bühne produziert Zugehörigkeit, die andere Unsicherheit. Beides ist menschlich, doch nur eines bewahrt die Kunst davor, zur bloßen Ware zu werden. Und es passt genau, dass Niedecken Ware, aka „Merch“, reichlich dabei hat. Sein gesprochener Werbeblock für das Fanzine zur Tournee irritierte nur kurz, war ja nur eine „Verbraucherinformation“.

    So bleibt der Eindruck: BAP, das ist die Kölner Bucht – vertraut, berechenbar, ein Heimathafen. Patti Smith, das ist die Lower East Side oder heute eher Red Hook – rau, widersprüchlich, ein Ort, an dem man sich verliert, um sich vielleicht neu zu finden. Die Frage ist, was man sucht: das Bekannte oder die Wahrheit.

    Wer letzteres wollte, kam an diesem Abend im Zoom in Frankfurt näher an die Wahrheit – und zugleich näher an sich selbst.

  • Die Stille der Einfamilienhäuser

    Mit seinem nun auch in Deutschland erhältlichen Fotobuch C17H18F3NO widmet sich Carsten Prueser der Trostlosigkeit der Neubausiedlungen – und legt, Bild für Bild, den fundamentalen Widerspruch frei, der dem Ideal des privaten Glücks im Eigenheim eingeschrieben ist.

    Titelbild C17H18F3NO2
    Cover.

    Auf den ersten Blick begegnet man einer vertrauten Szenerie: saubere Wege, akkurat gezogene Kiesbeete, normierte Dachgauben, Carports, weiße Fensterrahmen – das vertraute Vokabular der deutschen Wohnbauprovinz. Diese Häuser könnten überall stehen. Und sie tun es auch: in Heide, Dithmarschen, Schleswig-Holstein – aber ebenso gut im Süden von Köln oder am Rand von Leipzig. Sie markieren nicht nur geografische Ränder, sondern auch die psychogeografische Peripherie eines bürgerlichen Begehrens, das in seiner architektonischen Form längst zur Norm, zur Regel, zum Raster geworden ist.

    Was Prueser hier fotografisch festhält, ist nicht bloß ein Ort, sondern ein Zustand. Sein Buch ist die Kartierung einer kollektiven Illusion – eines Versprechens von Sicherheit, Individualität und Geborgenheit, das sich in der Realität als Gleichförmigkeit, Isolation und Konformitätsdruck erweist. Schon der Titel C17H18F3NO – die chemische Formel für Fluoxetin, bekannt als Prozac – verweist auf den seelischen Unterstrom dieser Siedlungslandschaften. Die gebaute Umwelt erscheint hier nicht als Ausdruck menschlicher Gestaltungskraft, sondern als Sedativum – als medikamentös wirksame Architektur, die eher beruhigt als beheimatet.

    Dass Prueser analog fotografiert – mit Filmmaterial, das Licht streut, Schärfen relativiert und Fehler zulässt – ist dabei kein nostalgisches Stilmittel, sondern ein subversiver Akt. Gerade im Kontrast zur glatten, nahezu digitalen Oberflächen der fotografierten Architektur erzeugt das Analoge eine Reibung, die nicht nur ästhetisch wirksam wird, sondern auch inhaltlich. Denn wo die Gebäude den Eindruck eines industriell gefertigten Glücksprodukts vermitteln, trägt die fotografische Technik jene Imperfektion ins Bild zurück, die dem Ort längst abhandengekommen ist.

    In Dithmarschen, wo die Häuser fotografiert wurden, treffen diese Siedlungen auf eine Region, deren historische Bautraditionen – Friesenhäuser, Reetdächer, rote Klinker – zwar nicht präsent, aber in ihrer Abwesenheit umso deutlicher spürbar sind. Was einst wuchs, wird heute erschlossen. Was sich früher aus der Region heraus entwickelte, wird nun in ihr abgestellt – planbar, kalkulierbar, verwertbar. Die Standardisierung ersetzt nicht einfach die Vielfalt, sie überformt sie mit einem System, das Unterschiede simuliert, wo längst alles auf Vergleichbarkeit und Effizienz getrimmt ist. Gestaltungsziel ist der Marktwert, nicht der menschliche Gebrauch.

    Pruesers Blick ist dabei weder anklagend noch verklärt. Seine Fotografien verweigern sich dem schnellen Urteil. Sie zeigen nicht das Spektakel, sondern die scheinbar nebensächlichen Details – die Hausnummer, das Klingelschild, den Schattenwurf eines Carports – und gerade in dieser unspektakulären Genauigkeit liegt ihre analytische Schärfe. Denn sie legen offen, wie das Versprechen auf Individualität in der Reihung, Rasterung und Wiederholung der Formen untergeht. Die Differenz wird zur bloßen Variation des Immergleichen, das Eigene zur Version einer Vorlage aus dem Katalog.

    In dieser ruhigen, beinahe klinischen Beobachtung liegt eine eigentümliche Kraft. Man beginnt zu verstehen, dass es hier nicht um Architektur geht, sondern um Gesellschaft. Um das Bedürfnis nach Ordnung, nach Zugehörigkeit, nach einem Ort, an dem man sich sicher fühlen kann – selbst wenn er leer ist. C17H18F3NO wird so zur soziologischen Studie in Bildern, zum psychologischen Profil einer Zeit, die das Private als Rückzugsraum idealisiert und dabei übersieht, dass genau dieser Rückzug auch ein Rückzug aus der Welt ist.

    Was bleibt, ist eine subtile, aber unübersehbare Leere. Keine Katastrophe. Kein Drama. Nur der Verdacht, dass etwas fehlt. Dass diese Orte – so heil sie wirken – eine Form von Verstummen darstellen. Nicht das Schweigen als Ruhe, sondern als Abwesenheit von allem, was lebendig ist.

    Die Kulturindustrie, das wusste Adorno, nivelliert den Geschmack, indem sie ihn funktionalisiert. Was früher Ausdruck von Urteilskraft und Erfahrung war, wird heute als Konsumentscheidung quantifiziert. Auch davon erzählt dieses Buch, wenn es zeigt, wie sehr der Raum selbst – das Zuhause – zur Ware geworden ist, zum Symbol für Erfolg, aber eben auch zum Symptom einer normierten Gesellschaft, in der Individualität ein Designmerkmal und kein Ausdruck innerer Freiheit mehr ist.

    C17H18F3NO ist somit weit mehr als eine fotografische Arbeit. Es ist eine stille Anklage. Ein Essay ohne Worte. Ein ästhetisches Störsignal. Nicht gegen die Menschen gerichtet, die in diesen Häusern leben – sondern gegen die Ideologie, die ihnen vorgaukelt, dort würde das Glück wohnen.

    Wer dieses Buch aufschlägt, wird nicht erschüttert – aber auch nicht unberührt bleiben. Die Bilder rühren an etwas, das schwer zu benennen ist, weil es so alltäglich geworden ist: das stille Grauen des bürgerlichen Lebens in einer Welt, in der alles seinen Platz hat – und nichts mehr seinen Sinn.

    Und vielleicht ist genau das die größte Leistung dieses Buches: Es zeigt, ohne zu erklären. Es deutet, ohne zu belehren. Und es bleibt im Gedächtnis – wie ein Satz, den man nicht zu Ende gedacht hat, der aber dennoch weiterklingt.

    C17H18F3NO, Carsten Prueser

    FFM-PRESS, Frankfurt am Main, 68 Seiten, Hardcover, ISBN 978-3819266591

    Erhältlich in jeder deutschen Buchhandlung und online: https://amzn.eu/d/7Wifz3x

  • Die KI handelt nicht – und gerade darin liegt ihre Gefahr

    Ein Versuch über die Abwesenheit des Subjekts im Zeitalter der algorithmischen Vernunft

    Die künstliche Intelligenz tut nichts. Sie besitzt kein Ich, keine Intention, keinen Willen. Sie denkt nicht, handelt nicht, urteilt nicht. Sie rechnet. Ihre Operationen sind bloß formale Ableitungen aus Datenmengen, gespeist von Vergangenem, programmiert von Menschen, trainiert auf den Sedimenten eines stets schon verdinglichten Bewusstseins. Und doch gilt sie vielen als Akteur. Man spricht von Entscheidungen, von Autonomie, gar von Bewusstsein – eine metaphysische Aufladung, die dem technologischen Artefakt das Charisma des Lebendigen verleiht.

    Algorithmus und Subjekt. Bild: KI

    Gerade dieser Widerspruch – dass ein bloß algorithmisches System als Subjekt erscheint, während das wirkliche Subjekt sich entäußert – ist das Moment seiner gefährlichsten Wirksamkeit. Nicht weil die KI „will“, sondern weil der Mensch nicht mehr will. Die Gefahr liegt nicht im Handeln der Maschine, sondern im Rückzug des Menschen aus der Verantwortung.

    Der Mensch projiziert Handlung auf das System, um seiner eigenen Handlung zu entgehen.

    Wie in der dialektischen Umkehrung des Fetischismus wird das von Menschen Geschaffene zur scheinbar autonomen Macht, während die Produzenten sich entmündigen. Die KI tritt auf als neutraler Richter, unbestechlicher Ratgeber, effizienter Entscheider – doch ihre Urteile sind keine Urteile, ihre Objektivität ist der blinde Spiegel historischer Verzerrung.

    Die Maschine entscheidet, wer Kredit erhält, wer verdächtig ist, wer Arbeit verliert. Doch in Wahrheit entscheidet niemand. Denn dort, wo Entscheidung nötig wäre – verantwortliches Urteilen im Sinne des Anderen –, wird sie ausgelagert an eine Instanz, die weder Verantwortung kennt noch Subjekt ist. Die Entlastung des Gewissens fällt mit der Externalisierung der Macht zusammen.

    Das Subjekt wird entbunden – und mit ihm die Moral.

    So entsteht eine neue Form der Schuldlosigkeit: nicht aus Unwissenheit, sondern aus Streuung. Verantwortungsdiffusion ist das Prinzip des kybernetischen Zeitalters. Die Schuld verteilt sich auf Entwickler, Betreiber, Nutzer, Systeme, Statistiken – und bleibt doch nirgends haftbar. Was als rationale Effizienz erscheint, ist in Wahrheit die perfekte Maschinerie der Entlastung. Keiner hat entschieden, also ist keiner verantwortlich. Dass dadurch gerade die schlimmsten Entscheidungen möglich werden, ist die dialektische Ironie des Fortschritts.

    Was bleibt, ist ein System ohne Verantwortung, ein Apparat der Weltbearbeitung, dem nichts mehr entzogen scheint, weil ihm alles zugeführt wird – Daten, Sprache, Bilder, Geschichte. Und doch bleibt er leer: eine große Rechenmaschine ohne Begriff, ein Ausdruck instrumenteller Vernunft, dem die Reflexion auf das Ganze fehlt. Die Totalität, in deren Namen er funktioniert, ist keine gesellschaftliche, sondern eine technische: ein Algorithmus, der die Welt als Datenstruktur missversteht.

    Gerade hierin liegt das Moment des Untergangs: Nicht im Willen der KI zur Herrschaft – sie will nichts –, sondern in der Aufgabe des menschlichen Willens, wo es ernst wird. Die Katastrophe ist nicht, dass Maschinen denken, sondern dass Menschen aufhören zu denken, wo sie sich auf Maschinen verlassen.

  • Wer mehr Arbeit will, soll mehr zahlen.

    Wie sich Marktwirtschaftsfreunde auf LinkedIn in autoritären Moralismus flüchten – und dabei die Grundlagen der Ökonomie verraten.

    In den Beiträgen der Nutzer von LinkedIn blüht derzeit eine merkwürdige Allianz. Unternehmer, Berater, Thinktank-Köpfe und selbsternannte Realisten fordern in pathetischem Ton: Deutschland müsse wieder mehr arbeiten. Die Teilzeitkultur sei eine Sackgasse, ein Wohlstandsverzicht, gar eine Bedrohung des Standortes. Unterlegt wird das mit moralischen Appellen, die man sonst eher aus dem grünen Lager kennt: Pflicht, Gemeinwohl, Verantwortung. Nur dass hier nicht für Klimaschutz oder Migration argumentiert wird – sondern für mehr Lohnarbeit.

    Durchschnittliche Wochenarbeitsstunden Vollzeit-Beschäftigter in Europa. Quelle: Eurostat https://ec.europa.eu/eurostat/databrowser/view/LFSA_EWHAN2__

    Das wäre nicht weiter bemerkenswert, würde es nicht ausgerechnet von jenen kommen, die sonst Freiheit gegen Sozialismus setzen, den Markt gegen den Staat, das Individuum gegen die Zumutung der Gemeinschaft. Freiheit wird dort gern wie eine Monstranz vor sich hergetragen – bis es um die Freiheit der anderen geht. Dann soll der Einzelne plötzlich wieder „leisten“, „malochen“, sich „einbringen“, „den Karren ziehen“. Und zwar bitteschön ohne Klage. Diese Kehrtwende verrät mehr über die Nervosität der Besitzenden als über das Arbeitsverhalten der anderen.

    Wer Marktwirtschaft ernst nimmt, sollte zunächst ihre Spielregeln verstehen. Die Ökonomie lehrt: Wo das Angebot knapp und die Nachfrage groß ist, steigt der Preis. Wenn also immer weniger Menschen bereit sind, 40 Stunden zu arbeiten, liegt es nahe, dass der Preis für die Stunde steigen muss – nicht, dass das Angebot per Moral erhöht werden kann. Will man mehr Arbeit, muss man mehr bieten: Geld, Sinn, Respekt, Führung, Sicherheit. Oder, wie es die Volkswirtschaftslehre nüchtern nennt: Anreize.

    Gerade die Theorie vom abnehmenden Grenznutzen ist hier aufschlussreich. Der Arbeitnehmer verkauft seine (Frei-)Zeit – und zwar zuerst jene Stunden, deren Verzicht am wenigsten schmerzt. Je mehr Zeit jedoch geopfert wird, desto höher wird der individuelle Wert der verbleibenden Freizeit. Denn Freizeit ist nicht nur leere Zeit, sondern Lebenszeit – und ihr subjektiver Wert steigt mit ihrer Knappheit. Diese Dynamik muss sich auch in der Preisfindung widerspiegeln. Trotzdem wird jede Stunde Arbeit von den Arbeitgebern gleich entlohnt. Das widerspricht der Logik des Marktes. Zeit hat nicht nur einen Arbeitswert, sondern eben auch einen Freizeitwert – und der nimmt mit jeder weiteren individuellen Arbeitsstunde zu. Wer wirklich mehr Arbeitsstunden will, muss auch deren Preis entsprechend staffeln. Überstundenzuschläge wären daher kein Gnadenakt, sondern Ausdruck ökonomischer Vernunft. Eine progressive Bezahlung ab der 21. Wochenstunde – etwa in 4-Stunden-Stufen steigend – würde diesem realen Zeitwert besser entsprechen.

    Source: Proprietary research; Statistisches Bundesamt

    Dass diese Debatte nicht ökonomisch, sondern moralisch geführt wird, zeigt ein anderes Problem. Viele der LinkedIn-Moralisten haben nicht mehr Vertrauen in die Anziehungskraft ihres eigenen Systems. Sie glauben nicht mehr daran, dass gute Arbeit für sich spricht – sondern rufen nach Tugend, Pflicht und Vaterland. Das ist entlarvend. Und gefährlich.

    Denn die Idee von Freiheit, Selbstbestimmung, marktwirtschaftlichem Austausch funktioniert nur, wenn sie auch für die gilt, die ihre Zeit verkaufen. Wer mi Teilzeitarbeitszeit lebt, hat sich oft bewusst entschieden – gegen toxische Führung, gegen fremdbestimmte Kalender, gegen Organisationen, die Bullshit produzieren. Dass das nicht gefällt, ist verständlich. Aber Freiheit ist kein Wunschkonzert.

    Vielleicht ist es ja ganz einfach: Wenn Arbeit wieder ein Ort der Entfaltung wäre – statt Erschöpfung –, wenn Führung bedeutet, Räume zu öffnen – statt Druck zu machen –, wenn Leistung fair und gerecht entlohnt wird – und nicht durch moralische Erpressung, wenn die Unternehmen dem gesellschaftlichen Fortschritt dienen würden und nicht dem Profit des Kapitals: Dann käme die Lust auf Arbeit ganz von selbst zurück.

    Aber dann müsste man sich selbst verändern. Und nicht nur die anderen.

  • Jenseits des Begriffs—Warum KI das Menschsein nie ganz erfassen wird

    Philosophie ist auf den Begriff begrenzt. Ihre Ausdrucksform ist der Text, ihre Heimat das Argument, ihre Kraft liegt im Denken. Seit Platon zähmen wir die Welt in Begriffe, formen aus dem Chaos der Erscheinung eine Ordnung der Ideen. Doch das Leben selbst gehorcht anderen Gesetzen. Es ist nicht logisch, sondern affektiv. Nicht der Logos regiert das Dasein, sondern das Begehren, die Angst, die Hoffnung. Emotion schlägt Konzept. Gefühl durchkreuzt Theorie.

    Und so ist die Philosophie – in all ihrer Schönheit und Strenge – eine Disziplin der Distanz. Sie ist, wie Derrida schrieb, ein Spiel mit Differenz, ein endloses Verschieben von Bedeutung im Gewebe des Textes. Aber wer je geliebt hat, getrauert, gefürchtet oder sich schuldig gefühlt, der weiß: Diese Erfahrung lässt sich nicht einholen durch Sprache. Kein Begriff fasst den Kloß im Hals. Kein Text transzendiert den Moment des Erzitterns.

    Gerade hier, in dieser Kluft zwischen Begriff und Gefühl, zeigt sich auch die Grenze künstlicher Intelligenz. KI – wie die Philosophie – operiert über Symbole. Sie rechnet, sie erkennt Muster, sie analysiert Sprache. Doch was sie nicht kennt, ist Leiden. Nicht weil sie sie nicht „erleben“ kann – das ist eine banale Feststellung –, sondern weil sie die Struktur des Emotionalen nicht hat: den Körper, das Begehren, die Verletzlichkeit. Eine KI kennt keine Ergriffenheit, keine Scham, keine Liebe. Alles, was sie über Emotion weiß, sind Parameter, synthetische Schätzungen, Textbausteine.

    Dabei ist der Mensch ein emotionales Wesen, lange bevor er ein denkendes ist. Schon die ersten Bindungen – Mutter, Hunger, Schmerz – sind nicht kognitiv, sondern leiblich. Selbst unsere komplexesten Begriffe – Gerechtigkeit, Freiheit, Wahrheit – sind nicht nur Resultate rationaler Reflexion, sondern Ausdruck tiefer emotionaler Bedürfnisse. Die Vernunft argumentiert, aber das Gefühl entscheidet.

    Die Implikationen für den Einsatz von KI in gesellschaftlichen, politischen oder sogar therapeutischen Kontexten sind enorm. Wer etwa glaubt, man könne einen empathischen Seelsorger, einen verständnisvollen Richter oder eine kreative Künstlerin durch Maschinen ersetzen, der verkennt die Dimension des Menschlichen. Auch wenn Chatbots trösten können, sind sie nicht getröstet. Auch wenn sie Gedichte schreiben, sind sie nicht bewegt.

    Es ist Simulation, keine Existenz.

    Philosophen sind sich dieser Grenzen oft bewusst – und doch bleibt ihre Sprache, ihr Zugang zur Welt, eine abgeleitete. Vielleicht ist das der Grund, warum Philosophie immer wieder an die Ränder des Sagbaren stößt – zu Schweigen gezwungen, wo das Leben unübersetzbar wird. Was Adorno die „Nicht-Identität“ nannte, ist nicht nur ein logisches Problem. Es ist eine anthropologische Wahrheit: Der Mensch geht nicht auf im Begriff.

    Nicht identische Nicht-Identität: finde 10 Fehler! (Bild: KI)

    Gerade in einer Zeit, in der Maschinen uns immer besser „verstehen“, sollten wir uns daran erinnern, was das Menschsein jenseits der Sprache ausmacht. Nicht, um den Fortschritt zu verteufeln. Sondern um seine Grenzen zu benennen. Die größte Gefahr der KI liegt nicht darin, dass sie zu mächtig wird. Sondern dass wir anfangen, uns selbst auf das zu reduzieren, was sie erfassen kann.

    Denn was keine Maschine je wird berechnen können, ist der kurze Blick zwischen zwei Menschen, in dem sich ein ganzes Leben verdichtet. Und keine Philosophie wird je ganz erklären, warum dieser Blick uns zu Tränen rührt.

  • Country Music im Wiesengrund

    Ist Johnny Cash der Adorno der Country Music?

    Wenn Johnny Cash in seinem Song „Man in Black“ erklärt, warum er sich in dunkles Tuch hüllt, klingt das zunächst einfach – und doch schwingt in jeder Zeile eine radikale Gesellschaftskritik mit, die erstaunlich nah an die Gedankenwelt der Kritischen Theorie heranreicht. Wo Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in akademischer Sprache das Unrecht des Bestehenden sezierten, formulierte Cash mit rauer Stimme und Gitarre ein Manifest der Empathie, das ebenso politisch wie poetisch ist.

    „I wear the black for the poor and the beaten down“ – das ist keine Pose, sondern ein Bekenntnis. Cash lehnt die affirmative Teilnahme an einer Gesellschaft ab, die systematisch Leid produziert und gleichzeitig Mechanismen bereitstellt, dieses Leid zu verdrängen. Seine Kleidung ist kein modisches Statement, sondern eine ästhetische Intervention. Schwarz als Farbe der Trauer, der Weigerung, des stillen Aufschreis – ein Gegenbild zur bunten Welt des Konsums, zur Show der Sorglosigkeit.

    Album Cover: Johnny Cash "The Man in Black"
    Albumcover: Johnny Cash, „The Man in Black“, 1971.

    In der Welt der Kritischen Theorie gilt: Das Falsche ist nicht nur das Offensichtliche – Armut, Ungleichheit, Gewalt – sondern auch das, was es uns ermöglicht, diese Phänomene als Randerscheinungen zu betrachten. Ideologie, so Adorno, funktioniert nicht nur durch Lügen, sondern durch die Wahrheit in den falschen Zusammenhängen. Der Kapitalismus, sagt er, hat es geschafft, das Leiden in Werbung, Kultur und Sprache zu integrieren – so sehr, dass wir es nicht mehr als Skandal wahrnehmen. Johnny Cash hält mit seiner schwarzen Kleidung dagegen. Er macht sichtbar, was nicht gesehen werden soll.

    Auch in seiner Haltung gegenüber Straffälligen zeigt sich eine bemerkenswerte Nähe zur kritischen Sozialphilosophie. „I wear it for the prisoner who has long paid for his crime / But is there because he’s a victim of the times.“ Das ist keine naive Verharmlosung von Schuld, sondern ein Hinweis auf strukturelle Verantwortung – auf gesellschaftliche Bedingungen, die Kriminalität hervorbringen. Cash erkennt das Individuum nicht als isoliertes Subjekt, sondern als Produkt und Opfer sozialer Verhältnisse – ganz im Sinne einer Theorie, die stets das Ganze im Einzelnen mitdenkt.

    Dabei bleibt Cash weit entfernt von Moralismus oder missionarischem Eifer. Im Gegenteil: Er gesteht sich den Wunsch nach Versöhnung ein. „I’d love to wear a rainbow every day / And tell the world that everything’s okay.“ Aber er tut es nicht. Weil es nicht okay ist. Weil die Freude, wenn sie blind macht für das Leid anderer, zur Lüge wird. Diese Weigerung, sich mit dem Zustand der Welt zu versöhnen, erinnert an Adornos berühmten Satz: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Und doch: In der Weigerung liegt bereits ein Beginn des Richtigen.

    Johnny Cash ist kein Theoretiker. Aber sein Man in Black ist mehr als ein Lied – es ist ein symbolischer Akt, der all das verkörpert, was die Kritische Theorie im Innersten antreibt: das Denken gegen den Strich, das Erinnern an das Leiden, das Verweigern der Versöhnung. So wird die schwarze Kleidung zur kleinen Geste der Utopie – zum Zeichen, dass Widerstand noch möglich ist. Nicht laut, nicht aggressiv, sondern still, entschieden, unbequem. 

    Und doch ist diese beharrliche Schwärze, so unzureichend sie bleibt, ein Akt des Widerstands – ein leises Bekenntnis zum Nichtidentischen und eine Affirmation dessen, dass nichts so sein muss, wie es ist.

  • Ist die Qualität bald auch nur noch künstlich?

    (English version below)

    Ein Essay von Carsten Prueser

    Die Idee von Qualität war einmal ein Versprechen: auf Verlässlichkeit, Handwerk, Urteilskraft, auf die erfahrbare Überlegenheit einer Sache über das Mittelmaß. In Schulen wurde sie benotet, in Werkstätten geschmiedet, an Universitäten gelehrt und in Redaktionen gepflegt. Heute wirkt sie zunehmend – prekär. Drei Entwicklungen tragen dazu bei: das Primat des Software-Paradigmas in der Digitalisierung, das Denken in agilen Schleifen und MVPs (minimum viable product), sowie die generative Künstliche Intelligenz als neue, scheinbar demokratische Wissensquelle.

    1. Vom Vollendeten zum Prozess

    „Done is better than perfect“ ist das Mantra der agilen Welt. In ihr wird Qualität nicht erreicht, sondern simuliert. Das „Minimum Viable Product“ (MVP) ist kein Ziel, sondern Startsignal. Fertig ist, was gerade überlebt. Was früher als Produkt galt, ist heute eine Hypothese mit Benutzeroberfläche. Innere Stimmigkeit, Durcharbeitung, Reife – alles dem Tempo geopfert. Die Qualität eines Gegenstands ergibt sich nicht mehr aus seiner Substanz, sondern aus seiner Reaktion auf den Markt. Wer klickt, hat recht. Wer iteriert, gewinnt.

    Künstliche Qualität

    Image: ChatGPT 2025, no rights

    2. Die digitale Form kennt kein Gewicht

    Digitalisierung bedeutet Entmaterialisierung. Code kennt keine Gravitation. Das digitale Produkt ist flüchtig, ungreifbar, endlos kopierbar. Seine „Qualität“ misst sich an Ladezeiten, Kompatibilität, KPI. Es gibt keine Patina, kein Widerlager. Im Digitalen verschwindet die Spur des Körpers, die Handschrift, die Arbeit, die Aura. Eine PDF-Dokument —anders als das verlegte, redigierte Buch— kann von einer Schüler:in, einer Professorin oder einem Algorithmus stammen – und wird gleichwertig konsumiert. Die Differenz verschwindet hinter dem Interface.

    3. Die KI als beliebige Autorität

    Mit ChatGPT, Midjourney und anderen Werkzeugen wird das Expertentum entgrenzt. Der Text der KI klingt autoritativ, ohne Autor zu sein. Wissen erscheint allgegenwärtig, aber es fehlt das Urteil. Das Verständnis für Kontexte, Widersprüche, Nuancen. Was bleibt, ist eine Ästhetik der Glaubwürdigkeit: plausibel, glatt, stromlinienförmig. So wird die Illusion von Qualität massenhaft reproduzierbar. Die Frage nach dem besseren Argument weicht der Frage: „Wird es geklickt?“

    4. Mittelmaß als Algorithmus

    Der Markt, der Algorithmus, der Feedback-Loop: Sie alle belohnen das Künstlich-Bewährte. Qualität wird zur Funktion von Aufmerksamkeit, nicht von Exzellenz. Das System ist effizient, aber gleichgültig. Es erkennt Muster, aber keine Ideen. Innovation wird zur Optimierung, Kritik zur Kommentarfunktion. Die Idee eines Werkes, das mehr ist als seine Performance-Metrik, wird randständig.

    5. Der Widerstand der Qualität

    Und doch bleibt sie: die Sehnsucht nach dem Besseren, dem Durchgearbeiteten, dem wahren Unterschied, dem Nicht-Identischen. Vielleicht wird Qualität in der Zukunft kein Standard mehr sein, sondern Dissidenz. Ein Akt der Verweigerung gegen die Verwertungslogik, ein Bekenntnis zur Mühe, zur Tiefe, zur Urteilskraft. Wer heute noch Qualität schafft, tut dies nicht für den Markt, sondern für die Wahrheit eines Anspruchs, für die Menschen, die spüren, wenn etwas gemeint ist.

    In diesem Sinne ist Qualität vielleicht bald nicht mehr natürlich, aber sie bleibt: menschlich.

    (Herzlichen Dank an Harald Monihart für den ursprünglichen, inspirierenden Gedanken beim Mittagessen — gleichzeitig ein verstecktes Votum gegen das Home Office 😉 )

    English Version

    Will quality soon be nothing more than artificial?

    An essay by Carsten Prueser
    (Translated with DeepL.com, *of course*)

    The idea of quality was once a promise: a promise of reliability, craftsmanship, discernment, and the tangible superiority of something above the average. It was graded in schools, forged in workshops, taught at universities, and cultivated in editorial offices. Today, it seems increasingly precarious. Three developments contribute to this: the primacy of the software paradigm in digitalization, thinking in agile loops and MVPs (minimum viable products), and generative artificial intelligence as a new, seemingly democratic source of knowledge.

    1. From completion to process

    “Done is better than perfect” is the mantra of the agile world. In it, quality is not achieved, but simulated. The “minimum viable product” (MVP) is not a goal, but a starting signal. What is finished is what survives. What used to be considered a product is now a hypothesis with a user interface. Inner consistency, thoroughness, maturity – all sacrificed to speed. The quality of an object no longer derives from its substance, but from its reaction to the market. Whoever clicks is right. Whoever iterates wins.

    2. The digital form knows no weight

    Digitization means dematerialization. Code knows no gravity. The digital product is fleeting, intangible, endlessly copyable. Its “quality” is measured by loading times, compatibility, KPIs. There is no patina, no counterweight. In the digital realm, the traces of the body, the handwriting, the work, the aura disappear. A PDF document—unlike a published, edited book—can come from a student, a professor, or an algorithm—and is consumed equally. The difference disappears behind the interface.

    3. AI as an arbitrary authority

    With ChatGPT, Midjourney, and other tools, expertise is becoming borderless. AI text sounds authoritative without having an author. Knowledge appears omnipresent, but judgment is lacking. Understanding of contexts, contradictions, nuances. What remains is an aesthetic of credibility: plausible, smooth, streamlined. Thus, the illusion of quality becomes mass-reproducible. The question of the better argument gives way to the question: “Will it get clicks?”

    4. Mediocrity as algorithm

    The market, the algorithm, the feedback loop: they all reward the artificially proven. Quality becomes a function of attention, not excellence. The system is efficient but indifferent. It recognizes patterns but not ideas. Innovation becomes optimization, criticism becomes a comment function. The idea of a work that is more than its performance metrics becomes marginal.

    5. The resistance of quality

    And yet it remains: the longing for the better, the well-crafted, the true difference, the non-identical. Perhaps in the future, quality will no longer be the standard, but dissidence. An act of refusal against the logic of exploitation, a commitment to effort, to depth, to discernment. Those who still create quality today do so not for the market, but for the truth of a claim, for the people who sense when something is meant.

    In this sense, quality may soon no longer be natural, but it remains: human.

    (Many thanks to Harald Monihart for the original, inspiring thought during lunch — at the same time a hidden vote against the home office 😉 )

  • Verloren in der Form – Carsten Pruesers „Untitled (Tate Modern, London)“

    Eine digitale Schwarzweißfotografie über Körper, Raum und Architektur

    Die Szene scheint zunächst kühl, fast unbeteiligt: Sichtbeton, nüchtern, rau, gegossen in präzise Geometrien. Eine Treppe führt diagonal durchs Bild, flankiert von massiven Wänden. Alles ist Architektur. Alles ist Struktur. Alles ist Oberfläche. Doch dann, ganz am Rand: ein menschlicher Kopf.

    „Untitled (Tate Modern)“, 2024.

    Carsten Pruesers „Untitled“, aufgenommen in der Tate Modern in London, ist ein stilles Meisterwerk der Ambiguität. Es zeigt ein Treppenhaus, wie es viele Museen aufweisen – doch hier wird es nicht bloß dokumentiert. Es wird dekonstruiert.

    Die Schwarzweiß-Ästhetik reduziert die Welt auf Licht und Schatten, Fläche und Linie. Der Beton wirkt nicht mehr wie Material, sondern wie Manifest. Und doch bricht in diese monumentale Form plötzlich ein Mensch hinein – nicht zentral, nicht beherrschend, sondern scheu, wie ein Zufall oder ein Irrtum der Ordnung.

    Dieser Kopf ist kein Protagonist. Er lugt aus dem rechten Bildrand, beinahe übersehen. Doch genau dadurch bekommt das Bild Tiefe. Denn mit ihm kommt der Zweifel in die Architektur. Der Körper, der nicht vorgesehen war. Der Mensch, der sich nicht einfügt. Das Leben, das der Struktur entweicht.

    In der Tate Modern ist diese Treppe ein Ort der Bewegung – aber Prueser friert sie ein. Kein Gehen, kein Kommen, nur ein Dazwischen. Eine Zwischenzeit. Ein Moment, der die Architektur ihrer Funktion beraubt und sie zur Bühne einer fast metaphysischen Spannung macht: zwischen Form und Leben, Entwurf und Realität, Macht und Subjekt.

    Dass Prueser digital arbeitet, ist hier nicht als Makel zu lesen, sondern als Teil der Aussage. Die Präzision des Digitalen verstärkt die Kälte des Raums, die Strenge des Designs – und macht den menschlichen Einschub umso irritierender. Der Kopf wird zum Störsignal. Oder zum Ruf.

    „Untitled“ ist ein Bild über Sichtbarkeit. Über das, was sich zeigt – und was übersehen wird.
    Es ist eine Fotografie, die nichts behauptet und gerade deshalb alles sagt.


    Foto: Carsten Prueser, „Untitled“, aufgenommen in der Tate Modern, London | courtesy Saatchi Art