Kategorie: Kommentar

  • Resilienz der Institutionen – ein Trugbild

    Die Demokratie stirbt nicht am Galgen. Sie stirbt an der Gleichgültigkeit und Ignoranz.

    Donnerstagabend, Sitzung der Stadtverordnetenversammlung Frankfurt. In den Reden, mit denen verdiente Frankfurter geehrt werden, schwingt Pathos mit: Demokratie, Rechtsstaat, Freiheit. Aber wer genau hinhört, erkennt den Klang der Leere. Es ist der Ton einer Ordnung, die sich ihrer eigenen Aushöhlung nicht bewusst ist – oder sie hinnimmt, weil sie bequem ist.

    Wir leben in einer Zeit, in der rechtsextreme und protofaschistische Parteien mit erschreckender Geschwindigkeit an Einfluss gewinnen. „Faschistisch“ heißt: Sie lehnen die Grundwerte der Demokratie ab, setzen auf autoritäre Führung, Ausgrenzung von Minderheiten und die Unterdrückung von Andersdenkenden. Diese Parteien nutzen demokratische Wahlen, um genau diese Demokratie von innen zu unterwandern. Es ist nicht länger eine ferne Möglichkeit, sondern eine politische Wahrscheinlichkeit, dass sie in Parlamente, in Regierungen, in die Ministerialbürokratie eindringen. Wer glaubt, dass das alles noch aufzuhalten sei mit ein bisschen Zivilgesellschaft und Lichterketten, hat die Tiefe des Problems nicht erkannt.

    Denn die eigentliche Erosion beginnt nicht mit den Rechten, sondern in der demokratischen Mitte. In den Institutionen selbst. Dort, wo das demokratische Versprechen täglich eingelöst werden müsste – oder eben verraten wird.

    Ein Beispiel: Eine Petition an die Vorsteherin der Stadtverordnetenversammlung Frankfurt – unbeantwortet. Wochenlang. Keine Eingangsbestätigung. Kein Hinweis auf das Verfahren. Kein Respekt vor dem grundgesetzlich geschützten Petitionsrecht (Art. 17 GG). Dieses Recht gibt jedem Menschen das Recht, sich mit einem Anliegen oder einer Beschwerde an staatliche Stellen zu wenden. Es ist ein elementares Schutzinstrument in der Demokratie. Wird es ignoriert, bedeutet das: Die Bürgerinnen und Bürger werden nicht mehr gehört.

    Noch schlimmer: Persönliche Daten eines Petenten werden durch den Vorsitzenden des Auschusses für – ausgerechnet! – „Wirtschaft und Recht“ an die Exekutive für die Verwendung in einer SLAPP-Maßnahme (s. u.) weitergereicht. Was heißt das? Jemand, der eine Petition eingereicht hat, wird zum Gegenstand einer Überprüfung oder sogar Einschüchterung durch die Verwaltung. Der parlamentarische Raum, eigentlich ein Schutzraum demokratischer Artikulation, wird so zur Quelle einer Delegitimationskampagne. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat hierfür den Begriff des „chilling effect“ entwickelt: Menschen verzichten aus Angst vor Konsequenzen darauf, ihre Rechte wahrzunehmen. Das ist ein Mechanismus, den man sonst eher aus autoritären Regimen kennt. Hier aber geschieht es unter demokratischer Flagge.

    Und man muss feststellen: Die Unkenntnis über demokratische Grundsätze und parlamentarische Regeln wiegt schwer – sie übertrifft womöglich sogar den bewussten Versuch, den Kritiker mundtot zu machen und vom eigenen Versagen abzulenken. Doch gerade das macht es nicht besser. Im Gegenteil.

    Der Magistratsdirektor Jürgen Schmidt, seit 20 Jahren Schriftführer der Stadtverordnetenversammlung, wird in dieser, „seiner“ letzten Sitzung mit einer Eloge und Standing Ovation verabschiedet. Ein Mann, der Bescheidenheit, Kompetenz und ein positives Pflichtgefühl ausstrahlt. Die Vorsteherin lobt seine Kenntnisse der Kommunalverfassung und der Geschäftsordnung.

    Links: Jürgen Schmitt, mitte: leer, rechts: junge Leute. Foto: C. Prueser

    Aber was nützen diese tiefen Kenntnisse eines so erfahrenen Staatsdieners, wenn die politischen Akteure die Grundprinzipien nicht verstanden haben, wenn sie in der Praxis zulassen, dass Grundrechte verletzt, parlamentarische Rechte missachtet und Pressefreiheit mit juristischen Einschüchterungsversuchen bekämpft wird?

    Solche Versuche nennt man „SLAPP“ – Strategic Lawsuits Against Public Participation. Gemeint sind Klagen oder Abmahnungen, die nicht darauf zielen, einen Rechtsstreit zu gewinnen, sondern Kritiker mundtot zu machen. Eine Taktik, die man eher von profitgierigen Großkonzernen kennt – nun aber auch von der öffentlichen Hand angewendet.

    Diese Fragen müssen wir stellen – jetzt, nicht später. Denn wer glaubt, dass man erst „dann“ handeln müsse, „wenn die Rechten kommen“, hat das Wesen institutioneller Resilienz nicht verstanden.

    „Resilienz“ bedeutet Widerstandsfähigkeit. Die Frage ist: Wie gut können unsere Institutionen mit Krisen, Angriffen und Missbrauch umgehen? Wenn die demokratischen Institutionen heute nicht funktionieren, wie sollen sie morgen bestehen – unter Druck, unter Besetzung, unter der Axt?

    Von den Problemen der Korruption und der zahlreichen Interessenkonflikte sprechen wir hier noch gar nicht – aber Korruption unterhöhlt das demokratische Gemeinwesen wie wenig anderes: Korruption zerstört Vertrauen, erodiert die Legitimation der Institutionen und der Normen. Wo Vetternwirtschaft, Günstlingsvergabe und systematische Verschleierung geduldet oder gar gedeckt werden, verlieren Bürgerinnen und Bürger nicht nur das Vertrauen in einzelne Akteure, sondern in das System als Ganzes. Wer davon an der Wahlurne profitiert, ist auch klar: die AfD und artverwandte Protofaschisten, die mit der Axt ans „Altsystem“ gehen wollen.

    Wir erleben eine Zeit, in der Bürgerbeteiligung zur Phrase verkommt – gerade weil die Realität den schönen Worten widerspricht.

    Das Frankfurter „Haus der Demokratie“ bei der Paulskirche gibt es schon: es ist der Römer. Nur erfüllen seine Bewohner diesen Anspruch nicht.
    Foto: Holger Ullmann CC-BY-NC-SA

    Es werden „Pavillons der Demokratie“ durch die Stadtteile getragen, während man gleichzeitig demokratische Rechte ignoriert. Ein „Haus der Demokratie“ wird geplant, während man unabhängige Presse mit absurden Abmahnungen verfolgt. Es ist eine Politik der schönen Bilder – aber der schlechten Praxis.

    Wir brauchen weder Pavillons noch neue Häuser, sondern einen wirklichen demokratischen Habitus im Römer, dem tatsächlichen Haus der Demokratie in Frankfurt.

    Demos, Unterschriftenlisten, Mahnwachen – all das ist richtig. Aber es reicht nicht. Denn in Wahrheit müssen wir jetzt eine neue Phase des Demokratieschutzes einleiten: den konkreten, rechtlich fundierten, institutionellen Widerstand. Das heißt: Wir müssen die Einhaltung demokratischer Rechte erzwingen, auch vor Gericht. Wir müssen Verwaltung und Politik zur Rechenschaft ziehen, durch öffentliche Kritik, durch juristische Mittel, durch Öffentlichkeit.

    Der Feind der Demokratie sitzt nicht nur ganz rechts. Er sitzt auch dort, wo man sich für unfehlbar hält. Wo man glaubt, dass ein bisschen „Demokratierhetorik“ reicht. Und er sitzt dort, wo man mit einem Schulterzucken hinnimmt, dass Recht gebrochen, Kritik unterdrückt und abgemahnt und institutionelle Pflicht schlicht ignoriert wird.

    Frankfurt, September 2025. Die Demokratie stirbt nicht plötzlich. Sie stirbt langsam – wenn niemand mehr widerspricht.

  • Korruptionsverdacht: Der Schatten der ABG

    Korruption ist kein fernes Phänomen, das in Nachrichten über entlegene Regime vorkommt. Ihr Risiko sitzt mitten in Frankfurt, in den Amtsstuben der Verwaltung, in den Fluren der ABG Frankfurt Holding GmbH, einer Gesellschaft, die unter der Führung von Frank Junker eigentlich für Gemeinwohl stehen sollte.

    Inzwischen gibt es gleich drei Strafverfahren, die belegen: Der Verdacht des Filzes war nie bloß ein Gerücht. Nach unseren Recherchen ist uns jetzt bekannt, dass es mindestens drei Strafverfahren wegen Korruptionsdelikten in der Sphäre der ABG gibt.

    Drei Strafprozesse – drei Spiegelungen

    • Aktenzeichen 915 Cs 7740 Js 232 292/20;
      Strafbefehl ergangen am 11.11.2024. Öffentliche Hauptverhandlung am 24.10.2025, 09:00 Uhr, Saal 15 E.
    • Aktenzeichen 915 Ds 7740 Js 214491/20 &x20;
      Erstinstanzliches Urteil ergangen, aktuell Berufung vor dem Landgericht.
    • Aktenzeichen 917 Ls 7740 Js 258649/24;
      Anklage vom 23.12.2024. Pflichtverteidiger bereits bestellt. Hauptverhandlung noch nicht eröffnet.

    In dem letztgenannten Verfahren stehen fünf Angeklagte vor Gericht, darunter ein Mitarbeiter der ABG. Fünf Verteidiger, drei Richter – das Format des Schöffengerichts zeigt bereits an, dass hier keine Bagatelle verhandelt wird. Ein Prozess ist ein Brennglas: erhellend und schmerzhaft zugleich. Wenn die Hauptverhandlung eröffnet wird, dürfte dies einer der aufsehenerregendsten Termine im Frankfurter Justizkalender werden. Noch liegt die Anklageschrift unter Verschluss – doch das Licht der Verhandlung wird sich nicht dauerhaft dimmen lassen.

    Amtsgericht Frankfurt: ein Urteil ist bereits ergangen. Foto: O. Brückner

    Die ABG als Bühne

    Die ABG ist mehr als ein städtisches Unternehmen. Sie ist eine Projektionsfläche: für Hoffnungen auf bezahlbaren Wohnraum, aber auch für Misstrauen, wenn Entscheidungen intransparent bleiben. Dass nun Verfahren wegen Korruptionsdelikten geführt werden, zeigt, wie brüchig das Fundament sein kann, wenn Gemeinwohlauftrag und Eigeninteresse ineinanderfließen. Jahrelange Versäumisse bei der Aufsicht manifestieren sich jetzt als Problem. Zehn Jahre lang stank der Fisch vom Kopf — Oberaufseher war der korrupte Oberbürgermeister Feldmann, später in anderer Sache wegen Vorteilsnahme vom Landgericht Frankfurt zu 120 Tagessätzen verurteilt. Es wird sich zeigen, ob seine Amtsführung einen negativen Einfluss hatte. Aber auch heute gibt es Aufsichtsratsmitglieder mit offensichtlichen Interessenkonflikten. Das ist hochriskant.

    Auch Stadt betroffen

    Aber auch die Stadt ist selbst betroffen von Korruptionsfällen: die Verurteilung von OB Peter Feldmann, zugleich höchster Aufseher der ABG und die Verurteilung seines engen Mitarbeiters, dem Leiter des Hauptamts Tarkan A. sind prominenteste Fälle. Zuletzt gab es Ermittlungen bei der Vergabe von Mietwagen-Lizenzen. Droht ein Rückfall in die 80er Jahre?

    „Sizilianische Verhältnisse“?

    Im Juli 1988 berichtete der Spiegel, dass gegen rund 300 Beschuldigte bei der Stadt ermittelt wurde. In sieben städtischen Ämtern – vom Straßenamt bis zu den Stadtwerken – habe es demnach als üblich gegolten, dass Firmen, aber auch Bürger zunächst Geld zahlen mussten, wenn sie Aufträge oder behördliche Unterstützung erhalten wollten.

    Der Blick zurück zeigt: Das Thema Korruption ist nicht neu, es zieht sich wie ein roter Faden bis in die aktuellen Verfahren hinein. Schon damals sprach ein Staatsanwalt von „sizilianischen Verhältnissen“. Die Frankfurter Rundschau berichtete etwa von einem städtischen Mitarbeiter, der von einem Unternehmer als Gegenleistung für seine Unterstützung verlangte, ihm eine Herde Rinder zu kaufen. Heute fragt man sich, welche Formen der Vorteilsnahme sich nun offenbaren werden – im sprichwörtlichen braunen Umschlag oder auf subtileren Wegen.

    Ein Fazit ohne Trost

    Frankfurt hat kein punktuelles, sondern ein strukturelles Korruptionsproblem. Die Verfahren in der Sphäre der ABG, die Verurteilungen bei der Stadt und die Rückblicke auf vergangene Skandale zeigen, dass Muster über Jahrzehnte fortwirken. Die Stadt steht vor der Frage, ob sie endlich die Kraft zur Selbstreinigung aufbringt – oder ob die alten Bilder von „sizilianischen Verhältnissen“ weiterhin das heimliche Leitmotiv bleiben.

  • SPD in der Krise – und ein Ausweg

    SPD in der Krise – und ein Ausweg

    „Die Krise der SPD ist tief, aber nicht unüberwindbar.“ Mit diesem Satz beendet Henning Meyer seinen Essay „Wie die SPD zu retten ist“, erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 27. Juni 2025. Es ist ein Text, der nicht nur die Diagnose einer seit Jahrzehnten schleichenden Krankheit liefert, sondern auch den möglichen Therapieweg skizziert. Und er stammt von jemandem, der Gewicht in der Partei hat: Meyer ist Sozialwissenschaftler, Honorarprofessor an der Universität Tübingen und stellvertretender Vorsitzender der Grundwertekommission der SPD. Er schreibt nicht aus der Pose des Besserwissers, sondern mit dem klaren Blick des Sozialdemokraten, der die Partei nicht verloren geben will.

    Der Befund

    Sein Befund ist ernüchternd: Seit den 1990er-Jahren habe die SPD ihr programmatisches Fundament preisgegeben und sich einem „transaktionalen Politikstil“ verschrieben – punktuelle Koalitionen, kurzfristige Zugeständnisse, aber ohne Kompass. Dieses Modell, einst von Schröder und Blair als Erfolgsformel gefeiert, hat sich erschöpft. Es hinterlässt eine Partei ohne Profil und ohne Überzeugungskraft.

    Wie das in der Praxis aussieht, zeigt der jüngste Frankfurter Mietenstopp. Als Maßnahme verkauft er sich auf den ersten Blick gut: ein rasches Signal, eine scheinbar klare Entlastung für die Mieterinnen und Mieter. Doch politisch bleibt er ein klassisches Lehrbuchbeispiel für Transaktionspolitik: ein Angebot im politischen Supermarkt, kein Ausdruck einer kohärenten Vision, zudem ökonomisch äusserst fragwürdig. Mehr noch: Er lenkt zugleich ab vom Versagen führender Sozialdemokraten bei der Governance des städtischen Immobilienkonzerns ABG, wo jahrelang Aufsichtspflichten vernachlässigt und Compliance-Fragen ausgeblendet wurden. Statt einer langfristigen wohnungspolitischen Strategie liefert die SPD ein kurzfristiges Preisschild – und versucht, damit die eigenen Versäumnisse zu kaschieren. Statt: „Kommunales Wohnen für möglichst viele“ (Vorbild Wien!) heißt es „Mietpreisprivilegien für 10 %“.

    Eine Lösung?

    Meyer hat recht: Wer Politik auf den Charakter von Sonderangeboten reduziert, verliert das, was Sozialdemokratie immer ausgezeichnet hat – die Fähigkeit, Menschen zu begeistern, Hoffnung zu wecken, einen gesellschaftlichen Zukunftsentwurf vorzulegen. Besonders schlüssig ist sein Rekurs auf Aristoteles. Der Philosoph unterschied drei Grundelemente erfolgreicher Rede – und damit, so Meyer, auch erfolgreicher Politik. Ethos bedeutet moralische Führung. Für eine moderne Sozialdemokratie heißt das konkret: Demokratie zu leben, Partizipation zu ermöglichen, Transparenz zu garantieren und die gesetzliche Bindung der Verwaltung ernst zu nehmen. Moralische Autorität entsteht nicht aus Sonntagsreden, sondern daraus, dass politische Akteure die Regeln des Rechtsstaates nicht nur predigen, sondern auch in der alltäglichen Praxis durchsetzen. Auf kommunaler Ebene bedeutet dies eine Verwaltung, die rechtstreu arbeitet, Entscheidungen nachvollziehbar begründet, die Öffentlichkeit beteiligt und dabei die Probleme der Stadt effizient und effektiv löst. Wo Demokratie gelebt, Transparenz praktiziert und Gesetzestreue gewährleistet wird, gewinnt Politik Glaubwürdigkeit zurück.

    Pathos bezeichnet die Fähigkeit, Emotionen anzusprechen, Menschen zu bewegen, Hoffnungen und Ängste ernst zu nehmen. Logos schließlich meint die rationalen Argumente, Inhalte und Programme, die Politik sachlich begründen und plausibel machen.

    Die Rechtspopulisten setzen nahezu ausschließlich auf Pathos: sie schüren Angst, Wut, Ressentiment. Die SPD wiederum hat sich in den vergangenen Jahren auf Logos verengt – Mindestlohn, Steuererleichterungen, Sozialprogramme. Alles wichtig, aber ohne Resonanz im Herzen der Wählerinnen und Wähler. Was fehlt, ist die Balance: Nur wenn Ethos, Pathos und Logos zusammenspielen, entsteht eine politische Kraft, die zugleich glaubwürdig, bewegend und vernünftig ist.

    Willy wählen

    Ein Blick in die eigene Geschichte zeigt, wie das gelingen kann. Willy Brandt verband in den 1970er-Jahren moralische Autorität, programmatische Klarheit und emotionale Ansprache in einer Weise, die bis heute als Vorbild gilt. Die Kampagne „Willy wählen“ war mehr als ein Slogan – sie war Ausdruck einer Begeisterung, die Millionen Menschen mobilisierte, weil sie das Gefühl hatten, Teil eines Aufbruchs zu sein. Genau diese Mischung aus Ethos, Pathos und Logos fehlt der SPD heute – und genau darauf zielt Meyers Analyse.

    Besonders wichtig ist sein Hinweis auf die Kommunen. Dort entscheidet sich, ob die SPD wieder Vertrauen gewinnen kann – im direkten Alltag der Menschen, nicht in der Berliner Blase.

    Meyers Fazit weist den richtigen Weg: Nur wenn die SPD eine solidarische, glaubwürdige Zukunftsvision formuliert, kann sie das Vertrauen zurückgewinnen. Wer glaubt, es ginge auch mit einem „Weiter so“, verkennt die Dramatik der Lage.

    Meyer meint, die SPD habe zwei Jahre Zeit, um im Rahmen der Grundsatzprogrammarbeit einen solchen Entwurf vorzulegen. Gelänge das, wird sie wieder zur gestaltenden Kraft. Scheitere sie, bleibt der Platz für gesellschaftliche Visionen den Populisten überlassen

    Die Frankfurter SPD hat nicht so viel Zeit: Schon bei der nächsten Kommunalwahl droht die Einstelligkeit, der weitere Ausblick ist vernichtend. Der Wille zur grundlegenden Kursänderung nicht erkennbar.

    Wahlergebnisse der Frankfurter SPD seit 1970 mit linearer Fortbildung bis 2050
    Wahlergebnisse der Frankfurter SPD seit 1970
    und eine lineare Extrapolation dieser Ergebnisse bis 2050.

    Ein Blick auf die Wahlergebnisse zeigt, dass die bisherige Strategie gescheitert ist.

  • Abmahnung für Menschlichkeit

    Nach einem Bericht von Friedrich Reinhardt (FNP) droht die ABG einem Mieter wegen Lebensmittelspenden

    Ein Bericht in der Frankfurter Neuen Presse (Montag, 11. August 2025, Seite 33, online nicht verfügbar) erzählt eine kleine Geschichte, die alles über den Zustand der Stadt verrät. Die ABG Frankfurt Holding, seit Jahrzehnten die kommunale Machtmaschine am Wohnungsmarkt, droht einem Rentner mit Abmahnung – weil er Lebensmittelspenden organisiert.

    Fritz Höper, 70+, eigensinnig, manchmal laut, aber schlicht von Solidarität getragen, koordiniert die Verteilung von überschüssigem Essen, berichtet Reinhardt in der FNP. Er rettet, was sonst im Müll landen würde, und bringt es dorthin, wo die Not am größten ist: in ein Hochhaus voller älterer Menschen mit kleiner Rente. Aus Sicht der Nachbarschaft ist das praktizierte Mitmenschlichkeit. Aus Sicht der ABG offenbar Ordnungs-widrig.

    Denn die Gesellschaft wirft ihm vor, so Reinhardt, mit den Essensspenden „Ratten“ anzulocken – und droht: Kosten für Schädlingsbekämpfung, Abmahnung, am Ende vielleicht Kündigung. Das alles in der Sprache einer Verwaltung, die sich nicht mehr für Menschen interessiert, sondern nur noch für Aktenzeichen.

    Was hier sichtbar wird, ist mehr als ein Nachbarschaftsstreit. Es tritt der verhunzte Charakter eines entmentschlichten Gemeinwohl-Unternehmens zu Tage, entstellt durch das Wirken der instrumentellen Vernunft: Wo Menschen füreinander sorgen, sieht die ABG nur Risiko und Störung. Gemeinwohlverpflichtung? Olle Kamellen, wir sind profitorientiert, und Profit ist geiler noch als Geiz.

    Das System Junker ist das Problem

    Dass die ABG so reagiert, ist kein Zufall. Über dreißig Jahre regiert ihr Geschäftsführer Frank Junker wie ein Patriarch. In dieser Zeit ist ein Klima entstanden, in dem alle Angst haben vor dem allmächtigen Paten – Mitarbeiter, Aufsichtsräte, ja selbst die Stadtpolitik. Die Folge: Lähmung. Niemand wagt, das Offensichtliche zu tun – nämlich Engagement zu unterstützen, statt es zu bestrafen.

    Die Politik kennt dieses Muster nur zu gut. Auch dort lähmt die Angst vor Machtverlust die Bereitschaft, menschlich und mutig zu handeln. Am Ende bleiben Menschen wie Höper allein zurück – bedroht von Briefköpfen, geschützt nur durch die spontane Solidarität ihrer Nachbarn.

    So wird aus einer Episode über Essensspenden ein Spiegel der Stadt: Ein Konzern im Besitz der Allgemeinheit, unfähig, Gemeinwohl zu leben. Eine Politik, die sich in Schweigen hüllt. Und eine Nachbarschaft, die zeigt, dass Menschlichkeit noch existiert – nur eben nicht dort, wo sie hingehörte.

    Es ist höchste Zeit, dass die Stadtregierung diese Lähmung überwindet. Sie muss die ABG wieder an ihren eigenen Gesellschaftszweck erinnern – die sichere und sozial verantwortbare Wohnungsversorgung – und das System Junker beenden. Alles andere hieße, die Entmenschlichung weiter zu dulden.

  • Korruption im Wohnungswesen: Ein strukturelles Problem

    Deutschland steckt in einer Wohnkrise. Doch während die Öffentlichkeit über Mietpreise und Neubauzahlen debattiert, bleibt ein Thema erstaunlich unterbelichtet: Korruption im kommunalen Wohnungswesen. Dabei zeigt sich gerade hier ein bedrückendes Muster aus Filz, Intransparenz und mangelnder Kontrolle. Die kürzlich bekannt gewordene Anklage gegen einen ehemaligen Mitarbeiter der ABG Frankfurt Holding GmbH und vier weitere Personen ist kein Einzelfall – sondern Symptom eines tieferliegenden Problems.

    Die ABG, eine hundertprozentige Tochter der Stadt Frankfurt am Main, steht exemplarisch für die strukturellen Schwächen vieler kommunaler Wohnungsunternehmen: Intransparente Vergabepraktiken, personelle Verflechtungen mit der Lokalpolitik, und eine Kultur des Schweigens.

    Seit 2020 ermittelte die Staatsanwaltschaft Frankfurt wegen Korruptionsdelikten im Zusammenhang mit der Vergabe von ABG-Wohnungen, unter anderem mit Hausdurchsuchungen auch in Räumen der ABG. Ein ehemaliger ABG-Mitarbeiter wurde am 5. Januar 2024 wegen Bestechlichkeit erstinstanzlich verurteilt.

    Ein Blick auf andere Städte zeigt: Frankfurt ist kein Sonderfall. In Berlin wurden 2021 Fälle von Untreue bei den landeseigenen Gesellschaften degewo und Gewobag publik. In Köln steht seit Jahren die GAG Immobilien AG unter Beobachtung. Und in Stuttgart hat sich das kommunale Wohnungsunternehmen SWSG in ein Dickicht aus Subunternehmen und Beraterverhältnissen verstrickt, das kaum noch zu entwirren ist.

    Die Mechanismen ähneln sich: mangelnde externe Kontrolle, ein eingeschränkter Zugang für Presse und Zivilgesellschaft, oft keine ordentliche Compliance-Struktur. Die zuständigen Aufsichtsräte, politisch besetzt, sind zu nah dran am Geschehen, zu wenig willens oder in der Lage, Missstände aufzudecken.

    Dabei geht es um mehr als kriminelle Einzelfälle. Die Verquickung von Politik, Verwaltung und kommunaler Wohnungswirtschaft produziert systematisch eine Grauzone, in der Verantwortung diffus wird und Rechenschaftspflicht erodiert. Der Schaden ist nicht nur materiell, sondern auch demokratisch: Wenn Vertrauen in die öffentliche Hand verloren geht, wenn der Eindruck entsteht, dass Filz dazugehört, dann erodiert die Legitimität des Staates von innen.

    Was tun? Erstens: volle Transparenz. Die Gesellschaften müssen zur Offenlegung aller Auftragsvergaben, Nebentätigkeiten und Compliance-Berichte verpflichtet werden. Zweitens: unabhängige Kontrollgremien, die nicht von Parteifreunden oder Verwaltungsmitarbeitern dominiert werden. Drittens: effektiver Schutz für Whistleblower und Pressezugang zu internen Unterlagen.

    Die Wohnungsfrage ist auch eine Machtfrage. Und solange Kontrolle fehlt, wird diese Macht missbraucht werden. Frankfurt ist ein Brennglas. Doch das Bild, das es zeigt, reicht weit über die Stadtgrenzen hinaus.

    Update/Richtigstellung, 05. August 2025: Ein Rechtschreibfehler, ein Genus-Fehler und ein Tempus-Fehler wurden korrigiert, nachdem uns die Stuttgarter Großkanzlei Gleiss Lutz im Auftrag der ABG mit einer Abmahnung überzogen hat. Wir haben das zum Anlass genommen, das bereits ergangene Korruptions-Urteil gegen einen ehemaligen ABG-Mitarbeiter in den Artikel mit aufzunehmen und ein Formulierung klarer zu fassen „Seit 2020 ermittelte die Staatsanwaltschaft Frankfurt wegen Korruptionsdelikten“. Über das grundrechtswidrige Vorgehen der ABG gegen uns und über die dahinter liegenden Motive werden wir in Kürze berichten)

    Update 2, 05. September 2025: Nach weiteren Nachforschungen sind uns inzwischen bereits drei Strafverfahren zu Korruptionsdelikten in der Sphäre der ABG bekannt:

    915 Cs 7740 Js 232 292 /20
    Strafbefehl ergangen am 11.11.2024
    Hauptverhandlung bestimmt auf den 24.10.2025, 09:00 Uhr, Saal 15 E

    915 Ds 7740 Js 214491/20
    Erstinstanzliches Urteil ergangen, aktuell Berufungsverfahren vor dem Landgericht

    917 Ls 7740 Js 258649/24
    Anklage vom 23.12 2024
    Pflichtverteidiger bereits durch das Gericht bestellt

    Wenn die Hauptverhandlung eröffnet wird, wird das großes Justizkino: 5 Angeklagte (einer Mitarbeiter der ABG) mit 5 Strafverteidigern, wegen der Schwere der Tat vor dem Schöffengericht mit gleich drei Richtern. Da wird viel ans Tageslicht kommen. Wir werden berichten.

  • CDU als AfD-Marionette: Wie die Richterwahl vergiftet wurde

    Kommentar: CDU knickt vor AfD ein – und infiziert die Richterwahl

    Konsens zerstört

    Es began genau so: Man zerbricht den stillen Konsens, dass Richterwahlen unpolitisch sind – über den Parteien, über der Tagespolitik, über dem Schmutz der Schlagzeilen und ideologischen Differenzen. In den USA war dieser Konsens einmal der Herzschlag des Supreme Court; Ruth Bader-Ginsburg (President Clinton) und Antoni Scalia (Reagan) wurden mit 96% bzw. 98% der Stimmen im Senat gewählt. Bis die Rechten diesen Konsens zerstörten. Sie machten aus der Wahl von Verfassungsrichtern eine Waffe. Aus dem Gericht eine Bastion ihrer Weltanschauung. Und aus dem Recht ein Instrument der Macht. Der Rest ist bekannt: ein tief gespaltenes Land, ein Supreme Court, der nicht mehr als Hüter der Verfassung gilt, sondern als Vollstrecker einer politischen Agenda.

    Das Gift erreicht den Bundestag

    Genau dieses Gift hat jetzt auch den Deutschen Bundestag erreicht. Was sich in der Causa Brosius-Gersdorf abspielte, war kein demokratischer Akt, sondern ein importiertes Stück US-Polittheater. Die CDU-Abgeordneten wirkten wie Statisten in einem Drehbuch, das andere geschrieben hatten – manipulierbar, planlos, ohne Rückgrat. Dass ausgerechnet Spahn und seine Mitstreiter das Spiel der AfD mitspielten, und zwar sehenden Auges, macht die Sache noch schlimmer. Statt die Würde des Parlaments zu wahren, wurde ein Schauprozess inszeniert, der den Ruf des höchsten Gerichts beschädigt. So beginnt der Niedergang eines Verfassungsgerichts – nicht mit einem Urteil, sondern mit der Perversion der Wahl zur Bühne für parteipolitische Ränkespiele. Konservative Werte sind Anstand, Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit. Das war hier nicht zu erkennen. Die CDU-Abgeordneten – unwissend, manipulierbar, bereit, sich zu Marionetten im Puppenspiel „Wir zerstören die CDU“ der AfD machen zu lassen – degradierten die Richterwahl zum öffentlichen Zirkus. Sie opferten Anstand, Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit auf dem Altar der parteipolitischen Taktik.

    Der Tiefpunkt

    Der Tiefpunkt: die Übernahme der längst widerlegten Plagiatsvorwürfe. Falsch, erfunden, wider besseres Wissen in den Raum gestellt – und trotzdem begierig weitergetragen. Und der katholische Fundamentalist mit der Fliege und den sechs Kindern echauffiert sich in der FAZ über einen „linken Kulturkampf“. Kämpfen – und siegen – tun hier aber nur die Rechten, und zwar die ganz am Rand. Kein Respekt vor dem Gericht, kein Respekt vor dem Parlament, kein Respekt vor der Wahrheit. Statt juristischer Debatte gab es hilfloses, herbeigezwungenes Gestammel einer CDU-Abgeordneten in der FAZ über „Naturrecht“ und „Positivismus“, dessen historische und philosophische Dimension ihr offensichtlich fremd war.

    Eine Zäsur für Demokratie und Recht

    Das alles ist mehr als ein einmaliger Skandal. Es ist eine Zäsur. Wer die Richterwahl politisiert, macht die Justiz zum Schlachtfeld. Wer das Spiel der AfD mitspielt, zerschlägt die Grundlagen des Vertrauens in die Institutionen. Wer den amerikanischen Virus ins deutsche System lässt, wird erleben, dass er sich unaufhaltsam ausbreitet – und dass die Krankheit, die er bringt, tödlich ist: für den Respekt vor dem Recht, für die Demokratie, für das Gemeinwesen.

    Warnung vor der Bequemlichkeit und Besserwissertum

    Und wer es sich beim Plattenhören (Vinyl, natürlich, einfach authentischer) auf dem Plüschsofa gemütlich macht und über die angebliche Störung der Biedermeier-Ruhe durch „linken Alarmismus“ klagt, läuft in Gefahr, bald vom rechten Gebrüll und der rechtsextremen Brandstiftung um den Schlaf – und seine Grundrechte – gebracht zu werden.

  • Mitbestimmung ist Demokratie-Deployment in der Arbeitswelt

    Leitplanken für entgrenzte Arbeit im digitalen VUCA-Zeitalter

    In einer Welt, in der der Code das Produkt ist, Entscheidungen in Datacentern getroffen werden und der Takt durch SLAs und Deployment-Zyklen bestimmt wird, scheint betriebliche Mitbestimmung vielen wie ein Anachronismus. Ein Irrtum. Denn gerade in der Tech-Industrie ist sie aktueller denn je. Zwischen Legacy-Systemen und Innovationsdruck, zwischen Cloud-Migration und Personalkostenoptimierung, braucht es nicht weniger Mitbestimmung, sondern mehr. Als demokratisches Korrektiv gegen Entgrenzung, Entmenschlichung und Entfremdung.

    Vier Arbeitnehmer sitzen an einem Tisch und diskutieren. Überschrift: Mitbestimmung ist Demokratie-Deployment in der Arbeitswelt.
    Betriebsrat: Demokratische Kontrolle im Unternehmen. Bild: KI

    Arbeit im Code: Wo Demokratie konkret wird

    Wer die Demokratie schützen will, muss sie dort verankern, wo Menschen täglich Entscheidungen erleben – oder deren Abwesenheit: im agilen Team, im Callcenter, im Support-Backlog. In der globalisierten Tech-Ökonomie verschwimmen Verantwortlichkeiten, Produkthoheit und Entscheidungsrechte. Mitbestimmung zieht hier demokratische Leitplanken für das Kapital. Sie stellt sicher, dass auch im schnellsten Sprint die Menschen nicht zur bloßen Ressource degradiert werden.

    Selbstwirksamkeit statt Algorithmisierung

    Mitbestimmung ist konkret erlebte Demokratie in der Welt der digitalen Produktion. In einer Umgebung, in der viele nur noch Tickets abarbeiten, bietet sie Raum für Mitgestaltung. Wo Innovation als Dauerzustand herrscht, braucht es partizipierende Mitarbeitende, die Verantwortung tragen dürfen – nicht nur für die Umsetzung, sondern für die Richtung. Wer heute digitale Transformation will, muss den Menschen mitnehmen. Wer ihn nicht einbindet, verliert ihn.

    Institution statt Slack-Kanal

    Der Betriebsrat ist kein nostalgisches Tool, sondern ein robustes Framework für soziale Steuerung in komplexen Systemen. In der Tech-Industrie, wo flache Hierarchien und New-Work-Ideale oft mit struktureller Fremdbestimmung kollidieren, schafft er klare, verhandelbare Schnittstellen. Er macht Widerspruch möglich, ohne Konflikte zu eskalieren. Gerade dort, wo permanent restrukturiert wird, wo Teams outgesourced, zentralisiert oder per Algorithmus bewertet werden, ist der Beriebsrat die API für demokratische Teilhabe.

    Vertrauen durch Struktur – auch im Rechenzentrum

    Vertrauen ist die kritische Ressource der digitalen Arbeitswelt. Doch Vertrauen entsteht nicht durch bunte Werteposter, sondern durch nachvollziehbare Prozesse und echte Mitsprache. Der Betriebsrat macht Teilhabe verlässlich – auch in global aufgestellten Teams, die nur noch via Chat kommunizieren. Gerade in dezentralen Strukturen ist Mitbestimmung das, was Verantwortung und Rechte wieder miteinander synchronisiert.

    Demokratie-Code reicht nicht – Demokratie muss auch deployt werden

    In einer Welt, in der Digitalisierung Abstraktion schafft, Europäisierung Verantwortung vernebelt und globale Konzerne lokale Realitäten übergehen, wird Mitbestimmung zur letzten Bastion demokratischer Erfahrung. Wer erlebt, dass Entscheidungen über die eigene Rolle im Konzern in Seattle oder Bangalore getroffen werden, verliert Vertrauen. Mitbestimmung wirkt dem entgegen. Sie stärkt das Selbstermächtigungserleben, das Gefühl, dass nicht alles nur passiert, sondern dass man selbst Teil eines Systems ist, das man mitgestalten kann.

    Fazit: Fortschritt braucht Gegenmacht – auch im Tech Stack

    Deutschland wurde nicht zum Technologieführer trotz Mitbestimmung, sondern wegen ihr. Die Sozialpartnerschaft hat Skalierbarkeit und Stabilität, Effizienz und Empathie miteinander versöhnt. Dieses Modell gehört nicht in den Legacy-Speicher, sondern in die Architektur künftiger Arbeitswelten. Mitbestimmung ist keine Bremse. Sie ist das Load-Balancing zwischen betrieblicher Dynamik und sozialer Kontrolle. Wer sie abschafft, riskiert technische Geschwindigkeit ohne soziale Richtung.

    In einer Welt, in der Releases all-abendlich ausgerollt werden und Wandel der einzige Fixpunkt ist, muss Demokratie skalierbar bleiben. Auch – und gerade – im digitalen Tech-Unternehmen.

  • Die KI handelt nicht – und gerade darin liegt ihre Gefahr

    Ein Versuch über die Abwesenheit des Subjekts im Zeitalter der algorithmischen Vernunft

    Die künstliche Intelligenz tut nichts. Sie besitzt kein Ich, keine Intention, keinen Willen. Sie denkt nicht, handelt nicht, urteilt nicht. Sie rechnet. Ihre Operationen sind bloß formale Ableitungen aus Datenmengen, gespeist von Vergangenem, programmiert von Menschen, trainiert auf den Sedimenten eines stets schon verdinglichten Bewusstseins. Und doch gilt sie vielen als Akteur. Man spricht von Entscheidungen, von Autonomie, gar von Bewusstsein – eine metaphysische Aufladung, die dem technologischen Artefakt das Charisma des Lebendigen verleiht.

    Algorithmus und Subjekt. Bild: KI

    Gerade dieser Widerspruch – dass ein bloß algorithmisches System als Subjekt erscheint, während das wirkliche Subjekt sich entäußert – ist das Moment seiner gefährlichsten Wirksamkeit. Nicht weil die KI „will“, sondern weil der Mensch nicht mehr will. Die Gefahr liegt nicht im Handeln der Maschine, sondern im Rückzug des Menschen aus der Verantwortung.

    Der Mensch projiziert Handlung auf das System, um seiner eigenen Handlung zu entgehen.

    Wie in der dialektischen Umkehrung des Fetischismus wird das von Menschen Geschaffene zur scheinbar autonomen Macht, während die Produzenten sich entmündigen. Die KI tritt auf als neutraler Richter, unbestechlicher Ratgeber, effizienter Entscheider – doch ihre Urteile sind keine Urteile, ihre Objektivität ist der blinde Spiegel historischer Verzerrung.

    Die Maschine entscheidet, wer Kredit erhält, wer verdächtig ist, wer Arbeit verliert. Doch in Wahrheit entscheidet niemand. Denn dort, wo Entscheidung nötig wäre – verantwortliches Urteilen im Sinne des Anderen –, wird sie ausgelagert an eine Instanz, die weder Verantwortung kennt noch Subjekt ist. Die Entlastung des Gewissens fällt mit der Externalisierung der Macht zusammen.

    Das Subjekt wird entbunden – und mit ihm die Moral.

    So entsteht eine neue Form der Schuldlosigkeit: nicht aus Unwissenheit, sondern aus Streuung. Verantwortungsdiffusion ist das Prinzip des kybernetischen Zeitalters. Die Schuld verteilt sich auf Entwickler, Betreiber, Nutzer, Systeme, Statistiken – und bleibt doch nirgends haftbar. Was als rationale Effizienz erscheint, ist in Wahrheit die perfekte Maschinerie der Entlastung. Keiner hat entschieden, also ist keiner verantwortlich. Dass dadurch gerade die schlimmsten Entscheidungen möglich werden, ist die dialektische Ironie des Fortschritts.

    Was bleibt, ist ein System ohne Verantwortung, ein Apparat der Weltbearbeitung, dem nichts mehr entzogen scheint, weil ihm alles zugeführt wird – Daten, Sprache, Bilder, Geschichte. Und doch bleibt er leer: eine große Rechenmaschine ohne Begriff, ein Ausdruck instrumenteller Vernunft, dem die Reflexion auf das Ganze fehlt. Die Totalität, in deren Namen er funktioniert, ist keine gesellschaftliche, sondern eine technische: ein Algorithmus, der die Welt als Datenstruktur missversteht.

    Gerade hierin liegt das Moment des Untergangs: Nicht im Willen der KI zur Herrschaft – sie will nichts –, sondern in der Aufgabe des menschlichen Willens, wo es ernst wird. Die Katastrophe ist nicht, dass Maschinen denken, sondern dass Menschen aufhören zu denken, wo sie sich auf Maschinen verlassen.

  • Wer mehr Arbeit will, soll mehr zahlen.

    Wie sich Marktwirtschaftsfreunde auf LinkedIn in autoritären Moralismus flüchten – und dabei die Grundlagen der Ökonomie verraten.

    In den Beiträgen der Nutzer von LinkedIn blüht derzeit eine merkwürdige Allianz. Unternehmer, Berater, Thinktank-Köpfe und selbsternannte Realisten fordern in pathetischem Ton: Deutschland müsse wieder mehr arbeiten. Die Teilzeitkultur sei eine Sackgasse, ein Wohlstandsverzicht, gar eine Bedrohung des Standortes. Unterlegt wird das mit moralischen Appellen, die man sonst eher aus dem grünen Lager kennt: Pflicht, Gemeinwohl, Verantwortung. Nur dass hier nicht für Klimaschutz oder Migration argumentiert wird – sondern für mehr Lohnarbeit.

    Durchschnittliche Wochenarbeitsstunden Vollzeit-Beschäftigter in Europa. Quelle: Eurostat https://ec.europa.eu/eurostat/databrowser/view/LFSA_EWHAN2__

    Das wäre nicht weiter bemerkenswert, würde es nicht ausgerechnet von jenen kommen, die sonst Freiheit gegen Sozialismus setzen, den Markt gegen den Staat, das Individuum gegen die Zumutung der Gemeinschaft. Freiheit wird dort gern wie eine Monstranz vor sich hergetragen – bis es um die Freiheit der anderen geht. Dann soll der Einzelne plötzlich wieder „leisten“, „malochen“, sich „einbringen“, „den Karren ziehen“. Und zwar bitteschön ohne Klage. Diese Kehrtwende verrät mehr über die Nervosität der Besitzenden als über das Arbeitsverhalten der anderen.

    Wer Marktwirtschaft ernst nimmt, sollte zunächst ihre Spielregeln verstehen. Die Ökonomie lehrt: Wo das Angebot knapp und die Nachfrage groß ist, steigt der Preis. Wenn also immer weniger Menschen bereit sind, 40 Stunden zu arbeiten, liegt es nahe, dass der Preis für die Stunde steigen muss – nicht, dass das Angebot per Moral erhöht werden kann. Will man mehr Arbeit, muss man mehr bieten: Geld, Sinn, Respekt, Führung, Sicherheit. Oder, wie es die Volkswirtschaftslehre nüchtern nennt: Anreize.

    Gerade die Theorie vom abnehmenden Grenznutzen ist hier aufschlussreich. Der Arbeitnehmer verkauft seine (Frei-)Zeit – und zwar zuerst jene Stunden, deren Verzicht am wenigsten schmerzt. Je mehr Zeit jedoch geopfert wird, desto höher wird der individuelle Wert der verbleibenden Freizeit. Denn Freizeit ist nicht nur leere Zeit, sondern Lebenszeit – und ihr subjektiver Wert steigt mit ihrer Knappheit. Diese Dynamik muss sich auch in der Preisfindung widerspiegeln. Trotzdem wird jede Stunde Arbeit von den Arbeitgebern gleich entlohnt. Das widerspricht der Logik des Marktes. Zeit hat nicht nur einen Arbeitswert, sondern eben auch einen Freizeitwert – und der nimmt mit jeder weiteren individuellen Arbeitsstunde zu. Wer wirklich mehr Arbeitsstunden will, muss auch deren Preis entsprechend staffeln. Überstundenzuschläge wären daher kein Gnadenakt, sondern Ausdruck ökonomischer Vernunft. Eine progressive Bezahlung ab der 21. Wochenstunde – etwa in 4-Stunden-Stufen steigend – würde diesem realen Zeitwert besser entsprechen.

    Source: Proprietary research; Statistisches Bundesamt

    Dass diese Debatte nicht ökonomisch, sondern moralisch geführt wird, zeigt ein anderes Problem. Viele der LinkedIn-Moralisten haben nicht mehr Vertrauen in die Anziehungskraft ihres eigenen Systems. Sie glauben nicht mehr daran, dass gute Arbeit für sich spricht – sondern rufen nach Tugend, Pflicht und Vaterland. Das ist entlarvend. Und gefährlich.

    Denn die Idee von Freiheit, Selbstbestimmung, marktwirtschaftlichem Austausch funktioniert nur, wenn sie auch für die gilt, die ihre Zeit verkaufen. Wer mi Teilzeitarbeitszeit lebt, hat sich oft bewusst entschieden – gegen toxische Führung, gegen fremdbestimmte Kalender, gegen Organisationen, die Bullshit produzieren. Dass das nicht gefällt, ist verständlich. Aber Freiheit ist kein Wunschkonzert.

    Vielleicht ist es ja ganz einfach: Wenn Arbeit wieder ein Ort der Entfaltung wäre – statt Erschöpfung –, wenn Führung bedeutet, Räume zu öffnen – statt Druck zu machen –, wenn Leistung fair und gerecht entlohnt wird – und nicht durch moralische Erpressung, wenn die Unternehmen dem gesellschaftlichen Fortschritt dienen würden und nicht dem Profit des Kapitals: Dann käme die Lust auf Arbeit ganz von selbst zurück.

    Aber dann müsste man sich selbst verändern. Und nicht nur die anderen.

  • Ist die Qualität bald auch nur noch künstlich?

    (English version below)

    Ein Essay von Carsten Prueser

    Die Idee von Qualität war einmal ein Versprechen: auf Verlässlichkeit, Handwerk, Urteilskraft, auf die erfahrbare Überlegenheit einer Sache über das Mittelmaß. In Schulen wurde sie benotet, in Werkstätten geschmiedet, an Universitäten gelehrt und in Redaktionen gepflegt. Heute wirkt sie zunehmend – prekär. Drei Entwicklungen tragen dazu bei: das Primat des Software-Paradigmas in der Digitalisierung, das Denken in agilen Schleifen und MVPs (minimum viable product), sowie die generative Künstliche Intelligenz als neue, scheinbar demokratische Wissensquelle.

    1. Vom Vollendeten zum Prozess

    „Done is better than perfect“ ist das Mantra der agilen Welt. In ihr wird Qualität nicht erreicht, sondern simuliert. Das „Minimum Viable Product“ (MVP) ist kein Ziel, sondern Startsignal. Fertig ist, was gerade überlebt. Was früher als Produkt galt, ist heute eine Hypothese mit Benutzeroberfläche. Innere Stimmigkeit, Durcharbeitung, Reife – alles dem Tempo geopfert. Die Qualität eines Gegenstands ergibt sich nicht mehr aus seiner Substanz, sondern aus seiner Reaktion auf den Markt. Wer klickt, hat recht. Wer iteriert, gewinnt.

    Künstliche Qualität

    Image: ChatGPT 2025, no rights

    2. Die digitale Form kennt kein Gewicht

    Digitalisierung bedeutet Entmaterialisierung. Code kennt keine Gravitation. Das digitale Produkt ist flüchtig, ungreifbar, endlos kopierbar. Seine „Qualität“ misst sich an Ladezeiten, Kompatibilität, KPI. Es gibt keine Patina, kein Widerlager. Im Digitalen verschwindet die Spur des Körpers, die Handschrift, die Arbeit, die Aura. Eine PDF-Dokument —anders als das verlegte, redigierte Buch— kann von einer Schüler:in, einer Professorin oder einem Algorithmus stammen – und wird gleichwertig konsumiert. Die Differenz verschwindet hinter dem Interface.

    3. Die KI als beliebige Autorität

    Mit ChatGPT, Midjourney und anderen Werkzeugen wird das Expertentum entgrenzt. Der Text der KI klingt autoritativ, ohne Autor zu sein. Wissen erscheint allgegenwärtig, aber es fehlt das Urteil. Das Verständnis für Kontexte, Widersprüche, Nuancen. Was bleibt, ist eine Ästhetik der Glaubwürdigkeit: plausibel, glatt, stromlinienförmig. So wird die Illusion von Qualität massenhaft reproduzierbar. Die Frage nach dem besseren Argument weicht der Frage: „Wird es geklickt?“

    4. Mittelmaß als Algorithmus

    Der Markt, der Algorithmus, der Feedback-Loop: Sie alle belohnen das Künstlich-Bewährte. Qualität wird zur Funktion von Aufmerksamkeit, nicht von Exzellenz. Das System ist effizient, aber gleichgültig. Es erkennt Muster, aber keine Ideen. Innovation wird zur Optimierung, Kritik zur Kommentarfunktion. Die Idee eines Werkes, das mehr ist als seine Performance-Metrik, wird randständig.

    5. Der Widerstand der Qualität

    Und doch bleibt sie: die Sehnsucht nach dem Besseren, dem Durchgearbeiteten, dem wahren Unterschied, dem Nicht-Identischen. Vielleicht wird Qualität in der Zukunft kein Standard mehr sein, sondern Dissidenz. Ein Akt der Verweigerung gegen die Verwertungslogik, ein Bekenntnis zur Mühe, zur Tiefe, zur Urteilskraft. Wer heute noch Qualität schafft, tut dies nicht für den Markt, sondern für die Wahrheit eines Anspruchs, für die Menschen, die spüren, wenn etwas gemeint ist.

    In diesem Sinne ist Qualität vielleicht bald nicht mehr natürlich, aber sie bleibt: menschlich.

    (Herzlichen Dank an Harald Monihart für den ursprünglichen, inspirierenden Gedanken beim Mittagessen — gleichzeitig ein verstecktes Votum gegen das Home Office 😉 )

    English Version

    Will quality soon be nothing more than artificial?

    An essay by Carsten Prueser
    (Translated with DeepL.com, *of course*)

    The idea of quality was once a promise: a promise of reliability, craftsmanship, discernment, and the tangible superiority of something above the average. It was graded in schools, forged in workshops, taught at universities, and cultivated in editorial offices. Today, it seems increasingly precarious. Three developments contribute to this: the primacy of the software paradigm in digitalization, thinking in agile loops and MVPs (minimum viable products), and generative artificial intelligence as a new, seemingly democratic source of knowledge.

    1. From completion to process

    “Done is better than perfect” is the mantra of the agile world. In it, quality is not achieved, but simulated. The “minimum viable product” (MVP) is not a goal, but a starting signal. What is finished is what survives. What used to be considered a product is now a hypothesis with a user interface. Inner consistency, thoroughness, maturity – all sacrificed to speed. The quality of an object no longer derives from its substance, but from its reaction to the market. Whoever clicks is right. Whoever iterates wins.

    2. The digital form knows no weight

    Digitization means dematerialization. Code knows no gravity. The digital product is fleeting, intangible, endlessly copyable. Its “quality” is measured by loading times, compatibility, KPIs. There is no patina, no counterweight. In the digital realm, the traces of the body, the handwriting, the work, the aura disappear. A PDF document—unlike a published, edited book—can come from a student, a professor, or an algorithm—and is consumed equally. The difference disappears behind the interface.

    3. AI as an arbitrary authority

    With ChatGPT, Midjourney, and other tools, expertise is becoming borderless. AI text sounds authoritative without having an author. Knowledge appears omnipresent, but judgment is lacking. Understanding of contexts, contradictions, nuances. What remains is an aesthetic of credibility: plausible, smooth, streamlined. Thus, the illusion of quality becomes mass-reproducible. The question of the better argument gives way to the question: “Will it get clicks?”

    4. Mediocrity as algorithm

    The market, the algorithm, the feedback loop: they all reward the artificially proven. Quality becomes a function of attention, not excellence. The system is efficient but indifferent. It recognizes patterns but not ideas. Innovation becomes optimization, criticism becomes a comment function. The idea of a work that is more than its performance metrics becomes marginal.

    5. The resistance of quality

    And yet it remains: the longing for the better, the well-crafted, the true difference, the non-identical. Perhaps in the future, quality will no longer be the standard, but dissidence. An act of refusal against the logic of exploitation, a commitment to effort, to depth, to discernment. Those who still create quality today do so not for the market, but for the truth of a claim, for the people who sense when something is meant.

    In this sense, quality may soon no longer be natural, but it remains: human.

    (Many thanks to Harald Monihart for the original, inspiring thought during lunch — at the same time a hidden vote against the home office 😉 )