Kategorie: Kritik

  • Studium und punctum in der Ära der verwalteten Sichtbarkeit

    Warum Barthes heute radikaler ist als seine Interpreten – und warum seine Begriffe eine Waffe gegen die identitäre und algorithmische Erschöpfung der Fotografie bleiben.

    Es gehört zu den Ironien der Kulturtheorie, dass ausgerechnet Roland Barthes’ Begriffe studium und punctum – gedacht als poetische Miniaturen eines individuellen Blicks – zu einer Art akademischem Plastiksatz erstarrten. Man begegnet ihnen inzwischen wie man Layer in Photoshop begegnet: als verschiebbare Bausteine, mit denen sich jedes Bild problemlos erklären lässt. Genau dies wäre Barthes’ Horror gewesen. Die helle Kammer ist nicht Theorie im strengen Sinn, sondern eine Trauerprosa, eine Meditation über die Übermacht der Bilder und ein Versuch, in dieser Übermacht noch ein Stück unverfügbarer Subjektivität zu behaupten.

    Gerade deshalb verdient der Text eine Relektüre, die ihn aus dem akademischen Formalin befreit.

    Das studium: die nivellierende Ordnung der Sichtbarkeit

    Barthes’ studium bezeichnet das kulturell Erlernbare – die soziale Grammatik eines Bildes. In der Gegenwart ist dieses studium jedoch nicht mehr kulturell, sondern technisch codiert. Es wird nicht von Kunstgeschichte oder bürgerlicher Bildung geformt, sondern von Plattform-Ökonomien, von Recommendation Engines, visuellen Normierungsmechanismen, dem kapitalistischen Imperativ der Konformität.

    Das studium der Gegenwart ist algorithmischer Konsens.

    Das Bild wird nicht mehr Ausdruck oder Spur, sondern Produkt einer industriellen Affektökonomie. Die verwaltete Sichtbarkeit erlaubt nur zwei Modi: das Gefällige und das Empörende. Dazwischen verschwindet die Welt.

    Das studium ist damit die perfekte Kategorie unserer Epoche: der Raum, in dem jedes Bild identisch wird mit den Erwartungen der Plattformen, der Milieus, der identitären Szenen.

    Das punctum: der Riss, der nicht verwaltet werden kann

    Das punctum ist der prekäre Moment, in dem ein Bild aus dieser Ordnung herausfällt. Barthes nennt es den „Stich“ – ein Detail, das den Betrachter aus dem Gleichgewicht bringt, ohne erklärbar zu sein.

    Das punctum ist ein Ereignis der Nicht-Identität: ein kleiner Aufstand gegen die totalisierte Kultur der Lesbarkeit. Es ist ein Affekt ohne Algorithmus, eine Form, die sich nicht kapitalisieren lässt.

    In einer Welt, die jeden Blick ökonomisiert, ist das punctum der winzige Rest Freiheit, den die Bilderindustrie nicht einfängt.

    Gegen die identitäre Erschöpfung des Blicks

    Die identitäre Linke wie die identitäre Rechte – ideologische Antipoden, ästhetische Zwillinge – haben die Fotografie längst in eine Bühne des Gruppenperformens verwandelt. Bilder dienen nicht mehr der Begegnung mit Wirklichkeit, sondern der Bestätigung von Rollen: Opfer, Täter, Aktivist, Held, Zeuge.

    Das studium ist hier der normative Raum der identitären Ästhetik: Sag, was du bist. Zeig, zu wem du gehörst.

    Das punctum verweigert diese Logik. Es entzieht sich dem Kollektivismus und öffnet einen gefährlich offenen Raum des Subjekts. Damit ist das punctum überraschend kompatibel mit dem humanistisch-progressiven Ethos der Frankfurter Nachrichten: dem Beharren auf Freiheit, Nicht-Identität, individueller Erfahrung.

    Fotografie als Widerstandspraxis

    Für eine fotografische Praxis heute – journalistisch, dokumentarisch oder künstlerisch – bedeutet das:

    • Das studium ist unvermeidlich: Jede Aufnahme trägt Codes, Oberflächen, Erwartungen.
    • Das punctum jedoch muss ermöglicht werden: durch Kontingenz, durch Zeit, durch Unberechenbarkeit.

    Das punctum entsteht dort, wo die Fotografie sich weigert, eine Funktion zu erfüllen. Dort, wo sie nicht illustriert, nicht moralisiert, nicht performt.

    Jenseits von Barthes: punctum im vernetzten Zeitalter

    Eine Theorie der Fotografie im 21. Jahrhundert müsste Barthes nicht ersetzen, sondern radikalisieren. Das punctum ist heute weniger ein Detail im Bild als eine Störung im Informationsfluss: ein Moment, in dem die Logik der Sichtbarkeit aussetzt.

    Das punctum ist die letzte unverwaltete Zone im Bild – und vielleicht die letzte unverwaltete Zone im Subjekt.

    Barthes’ Begriffe sind nicht nostalgisch, nicht sentimental, nicht „schön“. Sie sind politisch – gerade weil sie das Politische nicht direkt adressieren.

    Im Zeitalter der algorithmischen Sichtbarkeit ist das studium die Ordnung der Macht. Das punctum ist ihre Unterbrechung.

    Und genau dort beginnt – immer noch, und vielleicht dringlicher denn je – die Freiheit der Fotografie.

  • Korruption vor Gericht — und in der Gesellschaft

    Korruption vor Gericht — und in der Gesellschaft

    Anlässlich des Korruptions-Prozesseses am kommenden Freitag im ABG-Komplex eine Rezension zu Gertrude Lübbe-Wolffs neu erschienenen Buch „Der ehrliche Deutsche“ (Klostermann Verlag, 2025)

    An diesem Freitag verhandelt die Strafabteilung des Amtsgerichts Frankfurt in einem von drei den Frankfurter Nachrichten bekannten Verfahren aus dem Korruptions-Komplex der ABG Frankfurt Holding GmbH. Ein Beispiel, das das Systemhafte am Thema Korruption in der Stadt sichtbar macht: Intransparente Strukturen, Nähe zwischen Politik und Verwaltung, wirtschaftliche Verflechtungen, die dem öffentlichen Auftrag zuwiderlaufen. Dass es dafür überhaupt erst eines Strafverfahrens bedarf, ist bezeichnend für den Zustand kommunaler Compliance.

    Buch (Abbildung)

    In dieses Klima fällt das neue Buch der ehemaligen Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff, das man als intellektuellen Prüfstein einer Gesellschaft lesen kann, die sich selbst gern für integer hält. Der ehrliche Deutsche – der Titel trägt eine ironische Spannung in sich. Er klingt zunächst wie eine Selbstvergewisserung – Ausdruck des tief verwurzelten Glaubens an deutsche Rechtschaffenheit. Doch zugleich legt Lübbe-Wolff den Finger auf genau diese Selbsttäuschung: Die Vorstellung vom „ehrlichen Deutschen“ wird zur Maske, hinter der sich strukturelle Blindheit und moralische Bequemlichkeit verbergen. Der Titel ist somit weniger Lob als Diagnose einer verdrängten Wirklichkeit.

    Man denkt sofort an Figuren wie den grünen Stadtkämmerer Bastian Bergerhoff, dessen Partei sich ehrenvoll für Informationsfreiheit stark macht, der aber schamlos die Stadtverordnetenversammlung belügt, um Einsicht in Akten mit Korruptionsbezug bei der ABG durch einen Prüfungsausschuss zu verhindern.

    Immerhin führt das für die Aufsicht zuständige Hessische Ministerium des Innern jetzt endlich eine Untersuchung durch.

    Lübbe-Wolff, Juristin und langjährige Professorin in Bielefeld, seziert in ihrem Buch die großen Mechanismen der Korruption: von der Vetternwirtschaft im Vergabewesen über die strukturelle Versuchung politischer Macht bis hin zu den grauen Zonen im Wissenschafts- und Gesundheitsbetrieb. Sie folgt dabei – wie auch die Frankfurter Nachrichten in der Berichterstattung – der Definition von Transparency International: Korruption als Missbrauch anvertrauter Macht zum eigenen Vorteil. Doch ihre Analyse reicht tiefer – sie beschreibt auch die psychologische und kulturelle Dimension, die Verdrängung des Problems im Selbstbild der „rechtschaffenen“ Deutschen.

    Lübbe-Wolff widerspricht entschieden der nationalen Selbstzufriedenheit. Zwar liege Deutschland auf Platz neun im internationalen Korruptionswahrnehmungsindex, doch sei es – so schreibt sie – vom „Integritätsspitzenreiter Dänemark weiter entfernt als von Chile oder den Vereinigten Arabischen Emiraten“. Die Risiken nähmen zu: Internationalisierung, Migration aus Ländern mit anderer Korruptionskultur, organisierte Kriminalität und eine Politik, die in Krisen Milliarden verteilt, ohne Kontrollmechanismen aufrechtzuerhalten.

    Besonders scharf fällt ihre Kritik am „Moralismus“ und an der „Regelungsillusion“ aus. Wer Korruption allein als moralisches Fehlverhalten Einzelner begreife, so Lübbe-Wolff, verkenne die strukturelle Dimension. Und wer glaubt, mit wohlklingenden Gesetzen sei das Problem erledigt, täusche sich – vor allem in der Europäischen Union, wo der „Erlass prächtig klingender Normen“ allzu oft die praktische Untätigkeit überdecke.

    Das kennen wir in Frankfurt vom Fall Peter Feldmann, der nur für einen begrenzten Tatkomplex im Zusammenhang mit der AWO verurteilt wurde. Zehn Jahre lang war er Chefaufseher der korruptionsbelasteten ABG Frankfurt Holding. Über eine systematische Aufarbeitung seines Wirkens dort ist nichts bekannt. Trotz des erhöhten Korruptionsrisikos in der Immobilienbranche. Der vom Aufsichtsrat unter seinem Vorsitz über das übliche Rentenalter hinaus und unter offenkundigen Compliance-Verstößen vertragsverlängerte Geschäftsführer Frank Junker (68) ist beispielsweise bis heute im Amt.

    Für die ehemalige Richterin ist Transparenz die wirksamste Gegenmedizin – und sie fordert eine „Abmagerungskur“ für das Datenschutzrecht, das in seiner Überdehnung häufig eher Vertuschung als Aufklärung ermögliche.

    Ihr Buch ist kein juristisches Traktat, sondern eine luzide Analyse einer politischen Kultur, die Korruption gern als Randphänomen auslagert. Dass es gerade aus Frankfurt kommt – der Stadt, die sich Transparenz in ihrer Beteiligungssatzung vorschreibt, sie aber regelmäßig verweigert – macht seine Lektüre zur Pflicht.

    „Der ehrliche Deutsche“ ist damit mehr als ein Fachbuch. Es ist ein Spiegel, in dem sich nicht nur Ministerien und Großkonzerne, sondern auch kommunale Gesellschaften wie die ABG wiedererkennen könnten – wenn sie den Mut hätten hinzusehen. 

    Gertrude Lübbe-Wolff: „Der ehrliche DeutscheÜber Problemverleugnung, Moralismus und Regelungsillusionen in Sachen Korruption.
    Vittorio Klostermann Verlag, Frankfurt am Main 2025. 344 Seiten, 29,80 €.

    Hauptverhandlungstermin im Verfahren 915 Cs 7740 Js 232292/20 (Tatvorwurf: Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr) findet am Freitag, den 24. Oktober 2025, um 09:00 Uhr in Saal 15 E, Gerichtsstraße 2, 60313 Frankfurt am Main, statt.

    (Anmerkung: für einige Stunden nach Veröffentlichung war eine Vorabversion durch einen Fehler im Redaktionsprozess online, in der impliziert wurde, ein verfahrensbeteiligter ABG-Mitarbeiter sei Angeklagter. Richtig ist, das ABG-Mitarbeiter Zeugen im Verfahren sind. Wir bedauern den Fehler und haben ihn korrigiert.)

  • Mehr als Dampf und Stahl

    Mehr als Dampf und Stahl

    Warum die algorithmische Revolution die industrielle übertrifft

    Die industrielle Revolution war die Geburtsstunde der Moderne. Sie verwandelte die Welt durch Maschinen, die stärker waren als der Mensch. Die digitale, algorithmische Revolution aber verwandelt sie durch Maschinen, die denken – oder wenigstens so tun, als täten sie es.

    Ihre Wirkmächtigkeit ist größer, ihr Zugriff tiefer, ihre Geschwindigkeit beispiellos. Denn sie verändert nicht nur, wie wir arbeiten oder produzieren, sondern wie wir wahrnehmen, denken und uns selbst verstehen.

    1. Die Revolution des Denkens

    Was die industrielle Revolution für den Körper war, ist die algorithmische für den Geist. Die Dampfmaschine dehnte die Reichweite des Körpers, der Algorithmus dehnt die des Geistes. Er übersetzt Erfahrung in Berechnung, Intuition in Statistik, Sprache in Wahrscheinlichkeiten. Damit greift er in das epistemische Fundament der Moderne ein: in die Vorstellung, dass Denken ein menschlicher Akt sei.

    Spielzeugmodell einer Dampfmaschine
    Dampfmaschine (Spielzeugmodell) Foto: Kenneth Obionu

    Die industrielle Revolution hat Arbeit verlagert – vom Handwerk in die Fabrik. Die algorithmische Revolution verlagert Bewusstsein – vom Subjekt in die Maschine. Sie ist die zweite große Entkopplung der Menschheitsgeschichte: Nach der Trennung von Muskel und Maschine nun die Trennung von Denken und Denker.

    Und sie geschieht nicht über Generationen, sondern in Echtzeit. Was im 19. Jahrhundert Jahrzehnte brauchte, vollzieht sich heute in Monaten. Kaum ein anderes historisches Phänomen hat sich so rasch globalisiert. Innerhalb weniger Jahre ist aus der Rechenmaschine eine Infrastruktur der Wahrnehmung geworden.

    Ihre Wirkmächtigkeit übertrifft die industrielle Revolution um ein Vielfaches. Diese hat Produktionsweisen und soziale Schichten verändert – jene verändert das Bewusstsein selbst. Die industrielle Revolution transformierte die materielle Welt; die algorithmische transformiert die symbolische. Sie wirkt nicht auf der Ebene des Tuns, sondern auf der des Denkens.

    1. Die gegenwärtige Irritation

    Die politische und kulturelle Desorientierung, die wir derzeit erleben, ist vor dieser Folie zu verstehen. Sie ist kein Zufall, sondern Ausdruck einer Zivilisation im Übergang. Ein narzisstischer Clown regiert Amerika und zerlegt die Institutionen, die einst als Schutzwall der westlichen Demokratie galten. In Deutschland ziehen protofaschistische Proleten in immer größerer Zahl in die Parlamente. Und die von Moskau einst unterdrückten Ostdeutschen sympathisieren vor lauter Friedenswille ausgerechnet mit dem „Friedensstifter“ im Kreml – einem retro-sowjetischen Kriegstreiber, der Europa mit archaischer Gewalt bedroht.

    All das sind Symptome eines tiefgreifenden Kontrollverlusts. Die industrielle Revolution erschütterte die soziale Ordnung, die algorithmische erschüttert die symbolische. Sie destabilisiert das, was Gesellschaften zusammenhält: gemeinsame Wirklichkeit.

    Denn der Algorithmus produziert keine einheitliche Öffentlichkeit, sondern Milliarden personalisierter Realitäten. Jede Suchanfrage, jeder Klick, jede Spur erzeugt eine eigene Welt. Die industrielle Revolution standardisierte Produktion; die algorithmische fragmentiert Wahrnehmung. Während die eine Massenkultur hervorbrachte, erzeugt die andere Parallelwelten.

    In dieser Zerlegung der Erfahrung liegt ihre eigentliche Macht. Der Algorithmus sortiert, was gesehen, gehört, geglaubt wird – und damit, was überhaupt existiert. Wir stehen erst am Anfang, doch die gegenwärtige Irritation speist sich aus einer noch unbewussten Ahnung kommender Umwälzungen. Die gesellschaftlichen Verwerfungen, die daraus entstehen werden, werden zivilisatorisch tektonisch sein – sie übersteigen alles, was die industrielle Revolution an sozialen, ökonomischen und politischen Brüchen hervorbrachte. Die Welt spürt, dass etwas Grundlegendes ihren inneren Kompass verschiebt.

    1. Wenn das Medium die Wirklichkeit formt

    Marshall McLuhan hat es auf die Formel gebracht: „The medium is the message.“ Jedes Medium prägt nicht nur die Form, sondern den Inhalt der Kommunikation. In der Ära der künstlichen Intelligenz ist dieses Diktum buchstäblich geworden. Die Plattform ist nicht mehr Träger, sie ist selbst Akteur. Sie entscheidet, was sichtbar wird, was Resonanz erfährt, was verschwindet.

    Zum ersten Mal stellt uns ein Werkzeug nicht nur neue Formen zur Verfügung – es erzeugt eigene Inhalte. Und mit diesen Inhalten entstehen eigene Logiken: Aufmerksamkeitsökonomie, algorithmische Verstärkung, emotionale Polarisierung.

    Die Maschine hat nicht nur gelernt, Sprache zu imitieren. Sie hat gelernt, welche Sprache wirkt. Sie lernt unsere Sehnsüchte, unsere Angststrukturen, unsere Muster der Zustimmung. Damit ist sie nicht länger Werkzeug des Ausdrucks, sondern Werkzeug der Steuerung.

    Die algorithmischen, sogenannten sozialen Medien sind dabei nur ein erster Anklang dessen, was KI-basierte Medien künftig entfalten werden. Schon ihre zentralistische, auf Profitmaximierung ausgerichtete Organisation wirkt wie ein Vorgriff auf eine neue Epoche der Öffentlichkeit. Profitmaximierung ist inhärent freiheitsfeindlich, weil sie alles auf Verwertbarkeit reduziert und das Gemeinsame zur Ware macht. Diese Logik zersetzt die demokratische Deliberation, das gemeinsame Aushandeln des Öffentlichen – jenes, was die klassische *res publica• im eigentlichen Sinn bedeutete. Was bleibt, ist eine Ökonomie der Aufmerksamkeit, die das Gemeinsame in unzählige Teilrealitäten aufspaltet und dadurch atomisiert.

    1. Vom Produzieren zum Kuratieren

    In dieser neuen Ordnung verschiebt sich der kreative und produktive Brennpunkt. Früher stand das mühsame Arbeiten am Entwurf im Zentrum; heute ist der Moment der Veröffentlichung der eigentliche schöpferische Akt. Ideen überschreiten die Schwelle zur Manifestation in Sekunden. Redaktion wird Kreation.

    In einer Welt permanenter Produktion —von Dingen und Ideen— wird das Filtern zur neuen Form des Denkens. Kuratieren ersetzt Schöpfen. Nur was erscheint, existiert – und was nicht erscheint, ist ungeschehen. Aus perception is reality wurde attention is existence.

    1. Die neue Aufgabe der Intelligenz

    Die entscheidende Frage lautet daher nicht mehr, wie künstliche Intelligenz uns beim Mehr-Produzieren hilft – das Überangebot ist längst da. Sondern: Wie kann sie unsere Wahrnehmung weiten, Resonanzräume öffnen, damit Bedeutendes im Rauschen nicht erstickt?

    Vielleicht liegt die nächste Evolutionsstufe maschineller Kreativität darin, unser Aufmerksamkeitsbudget intelligenter zu verteilen – nicht mehr unendliche Inhalte zu erzeugen, sondern Bedeutung zu filtern, Zusammenhänge zu erkennen, Diskurse zu strukturieren.

    Dann würde KI nicht mehr Generator sein, sondern Resonator: ein System, das nicht nur neue Welten baut, sondern uns befähigt, sie wahrzunehmen – mitsamt den Medien, die ihre Bedeutung formen.

    1. Macht, Abhängigkeit und der Verlust des Selbst

    Die Maschine war einst Werkzeug. Heute wird sie Akteur – oder, gefährlicher noch, Resonanzraum, in dem Macht sich unsichtbar vollzieht. Ihre Entscheidungen strukturieren Kommunikation, Märkte, Politik – ohne Verantwortung tragen zu können. Das Kapital des 19. Jahrhunderts war Besitz an Stahl und Land; das Kapital des 21. Jahrhunderts ist Zugriff auf Daten und Aufmerksamkeit.

    Wer das Netz beherrscht, beherrscht das Wissen – und damit die Welt.

    Die industrielle Moderne brachte Fortschritt, aber auch Entfremdung. Die algorithmische Moderne bringt Bequemlichkeit, aber auch Abhängigkeit. Wir überlassen den Maschinen nicht mehr nur unsere Muskelarbeit, sondern unser Urteilsvermögen. Sie schreiben, sprechen, wählen aus, was wir lesen – und schließlich, was wir denken sollen.

    Das ist die wahre Machtverschiebung unserer Zeit: Nicht, dass Maschinen Menschen ersetzen, sondern dass Menschen beginnen, sich selbst in der Logik der Maschine zu sehen.

    1. Ein neues Maß des Menschlichen

    Vielleicht liegt die kommende Aufgabe nicht darin, die Maschine zu fürchten, sondern das Menschliche neu zu definieren: als das, was sich nicht digitalisieren lässt – Urteil, Ironie, Verantwortung, Liebe. Das menschliche Denken ist, wie Adorno formulierte, durch das Nichtidentische gekennzeichnet: durch die Fähigkeit, sich selbst und der Welt gegenüber Distanz zu wahren, Differenz auszuhalten, Widerspruch zu erkennen. Diese Fähigkeit entzieht sich der Logik der Maschine, die Identität und Berechenbarkeit erzwingt.

    Im Nichtidentischen liegt das humane Moment – die Freiheit, nicht aufzugehen in Muster, Profil oder Vorhersage. Wenn wir diese Freiheit aufgeben, werden wir berechenbar, vorhersehbar, ersetzbar.

    Die Zukunft des Menschen entscheidet sich daran, ob er das Nichtidentische zu bewahren vermag – das Unaufhebbare, das sich der Berechnung entzieht. Wo die Maschine Identität erzwingt, hält der Mensch Differenz aus. Darin liegt seine Würde, sein Risiko und seine letzte Freiheit.

    Die industrielle Revolution hat die Welt verändert weil sie die Mechanisierung der Arbeit einführte und dadurch Produktions- und Machtverhältnisse neu ordnete. Ihr Kern war die Übertragung menschlicher Muskelkraft auf Maschinen – die Mechanisierung der Welt, die Energie, Bewegung und Zeit in technische Abläufe verwandelte und den Menschen zum Bediener seiner eigenen Erfindung machte. Die algorithmische Revolution verändert sie, weil sie Wahrnehmungsteilung erzwingt. Nur wenn wir das Nichtidentische – das Unberechenbare im Menschen – verteidigen, kann Demokratie mehr bleiben als ein optimierter Konsensprozess.

    Das Menschliche beginnt dort, wo sich das Denken weigert, identisch zu werden – mit sich, mit der Welt, mit dem Algorithmus. Vielleicht wird die Zukunft nicht von denen entschieden, die am schnellsten rechnen, sondern von denen, die sich dem Muster entziehen können.

  • Zwischen Stadtbild und Selbstbild

    Zwischen Stadtbild und Selbstbild

    Der Kanzler hat ein Wort benutzt, das in der Republik nachhallt: „Stadtbild“. Gemeint war Migration, gesagt war Ästhetik. Die Reaktionen fielen vorhersehbar aus – Empörung auf der einen Seite, Relativierung auf der anderen. Und wieder einmal steht das Land nicht vor einer Debatte, sondern in einer Pose.

    Bundeskanzler Friedrich Merz in Pose mit ukrainischem Migranten.
    Foto:Jesco Denzel für die Bundesregierung

    In Frankfurt rufen die Grünen nun zur Demonstration gegen Merz auf. Das Motto: „Ich bin (auch) ein Problem im Stadtbild!“ – charmant, ironisch, aber letztlich folgenlos. Denn wer sich nur über das Wort empört, übersieht, dass dahinter eine reale Erfahrung vieler Menschen steht: das Gefühl, dass sich etwas verändert – zu schnell, zu unverständlich, zu sichtbar.

    Man kann das Ressentiment nennen, oder auch: soziale Unsicherheit. Politik aber, die Veränderung nur moralisch verteidigt, statt sie sozial zu gestalten, verliert jene, die damit leben müssen. Das zeigen die Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen auf drastische Weise: Die Grünen verloren dort fast ein Drittel ihrer Stimmen, die SPD büßte ebenfalls deutlich ein – und die AfD verdreifachte sich. Es war ein Misstrauensvotum gegen eine Politik, die Migration als moralische Chiffre behandelt, nicht als soziale Aufgabe.

    Wer Politik für Menschen machen will, muss das Benennen und den Willen haben, Migration im Interesse aller sinnvoll und richtig zu steuern.

    Grundsätzlich ist Migration kein Problem, sondern eine Realität. Aber die bis heute weitgehend ungesteuerte und unregulierte Zuwanderung nach Deutschland in den letzten zehn Jahren bringt neben vielen Vorteilen auch Probleme mit sich: Kriminalität, Segregation, Sprachbarrieren, Überforderung der Institutionen, Wertedifferenzen, offener Antisemitismus und Ablehnung unserer staatlichen Ordnung. Wer sie leugnet, überlässt sie jenen, die sie instrumentalisieren. Politik muss das Ambivalente aushalten: Migration ist Bereicherung und Herausforderung zugleich.

    Frankfurt weiß das besser als jede andere Stadt. Wer durch Bahnhofsviertel und Bankenviertel geht, sieht beides: Weltoffenheit und soziale Spaltung, Toleranz und Ohnmacht. Ein „Stadtbild“, das viel erzählt – wenn man hinsieht.

    Vielleicht wäre es klüger, weniger über Wörter zu demonstrieren als über Wirklichkeiten zu sprechen.

    (Hinweis: Nachträglich Differenzierung zwischen Migrations grundsätzlich & konkret hier und heute eingearbeitet. CP)

  • Resilienz der Institutionen – ein Trugbild

    Die Demokratie stirbt nicht am Galgen. Sie stirbt an der Gleichgültigkeit und Ignoranz.

    Donnerstagabend, Sitzung der Stadtverordnetenversammlung Frankfurt. In den Reden, mit denen verdiente Frankfurter geehrt werden, schwingt Pathos mit: Demokratie, Rechtsstaat, Freiheit. Aber wer genau hinhört, erkennt den Klang der Leere. Es ist der Ton einer Ordnung, die sich ihrer eigenen Aushöhlung nicht bewusst ist – oder sie hinnimmt, weil sie bequem ist.

    Wir leben in einer Zeit, in der rechtsextreme und protofaschistische Parteien mit erschreckender Geschwindigkeit an Einfluss gewinnen. „Faschistisch“ heißt: Sie lehnen die Grundwerte der Demokratie ab, setzen auf autoritäre Führung, Ausgrenzung von Minderheiten und die Unterdrückung von Andersdenkenden. Diese Parteien nutzen demokratische Wahlen, um genau diese Demokratie von innen zu unterwandern. Es ist nicht länger eine ferne Möglichkeit, sondern eine politische Wahrscheinlichkeit, dass sie in Parlamente, in Regierungen, in die Ministerialbürokratie eindringen. Wer glaubt, dass das alles noch aufzuhalten sei mit ein bisschen Zivilgesellschaft und Lichterketten, hat die Tiefe des Problems nicht erkannt.

    Denn die eigentliche Erosion beginnt nicht mit den Rechten, sondern in der demokratischen Mitte. In den Institutionen selbst. Dort, wo das demokratische Versprechen täglich eingelöst werden müsste – oder eben verraten wird.

    Ein Beispiel: Eine Petition an die Vorsteherin der Stadtverordnetenversammlung Frankfurt – unbeantwortet. Wochenlang. Keine Eingangsbestätigung. Kein Hinweis auf das Verfahren. Kein Respekt vor dem grundgesetzlich geschützten Petitionsrecht (Art. 17 GG). Dieses Recht gibt jedem Menschen das Recht, sich mit einem Anliegen oder einer Beschwerde an staatliche Stellen zu wenden. Es ist ein elementares Schutzinstrument in der Demokratie. Wird es ignoriert, bedeutet das: Die Bürgerinnen und Bürger werden nicht mehr gehört.

    Noch schlimmer: Persönliche Daten eines Petenten werden durch den Vorsitzenden des Auschusses für – ausgerechnet! – „Wirtschaft und Recht“ an die Exekutive für die Verwendung in einer SLAPP-Maßnahme (s. u.) weitergereicht. Was heißt das? Jemand, der eine Petition eingereicht hat, wird zum Gegenstand einer Überprüfung oder sogar Einschüchterung durch die Verwaltung. Der parlamentarische Raum, eigentlich ein Schutzraum demokratischer Artikulation, wird so zur Quelle einer Delegitimationskampagne. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat hierfür den Begriff des „chilling effect“ entwickelt: Menschen verzichten aus Angst vor Konsequenzen darauf, ihre Rechte wahrzunehmen. Das ist ein Mechanismus, den man sonst eher aus autoritären Regimen kennt. Hier aber geschieht es unter demokratischer Flagge.

    Und man muss feststellen: Die Unkenntnis über demokratische Grundsätze und parlamentarische Regeln wiegt schwer – sie übertrifft womöglich sogar den bewussten Versuch, den Kritiker mundtot zu machen und vom eigenen Versagen abzulenken. Doch gerade das macht es nicht besser. Im Gegenteil.

    Der Magistratsdirektor Jürgen Schmidt, seit 20 Jahren Schriftführer der Stadtverordnetenversammlung, wird in dieser, „seiner“ letzten Sitzung mit einer Eloge und Standing Ovation verabschiedet. Ein Mann, der Bescheidenheit, Kompetenz und ein positives Pflichtgefühl ausstrahlt. Die Vorsteherin lobt seine Kenntnisse der Kommunalverfassung und der Geschäftsordnung.

    Links: Jürgen Schmitt, mitte: leer, rechts: junge Leute. Foto: C. Prueser

    Aber was nützen diese tiefen Kenntnisse eines so erfahrenen Staatsdieners, wenn die politischen Akteure die Grundprinzipien nicht verstanden haben, wenn sie in der Praxis zulassen, dass Grundrechte verletzt, parlamentarische Rechte missachtet und Pressefreiheit mit juristischen Einschüchterungsversuchen bekämpft wird?

    Solche Versuche nennt man „SLAPP“ – Strategic Lawsuits Against Public Participation. Gemeint sind Klagen oder Abmahnungen, die nicht darauf zielen, einen Rechtsstreit zu gewinnen, sondern Kritiker mundtot zu machen. Eine Taktik, die man eher von profitgierigen Großkonzernen kennt – nun aber auch von der öffentlichen Hand angewendet.

    Diese Fragen müssen wir stellen – jetzt, nicht später. Denn wer glaubt, dass man erst „dann“ handeln müsse, „wenn die Rechten kommen“, hat das Wesen institutioneller Resilienz nicht verstanden.

    „Resilienz“ bedeutet Widerstandsfähigkeit. Die Frage ist: Wie gut können unsere Institutionen mit Krisen, Angriffen und Missbrauch umgehen? Wenn die demokratischen Institutionen heute nicht funktionieren, wie sollen sie morgen bestehen – unter Druck, unter Besetzung, unter der Axt?

    Von den Problemen der Korruption und der zahlreichen Interessenkonflikte sprechen wir hier noch gar nicht – aber Korruption unterhöhlt das demokratische Gemeinwesen wie wenig anderes: Korruption zerstört Vertrauen, erodiert die Legitimation der Institutionen und der Normen. Wo Vetternwirtschaft, Günstlingsvergabe und systematische Verschleierung geduldet oder gar gedeckt werden, verlieren Bürgerinnen und Bürger nicht nur das Vertrauen in einzelne Akteure, sondern in das System als Ganzes. Wer davon an der Wahlurne profitiert, ist auch klar: die AfD und artverwandte Protofaschisten, die mit der Axt ans „Altsystem“ gehen wollen.

    Wir erleben eine Zeit, in der Bürgerbeteiligung zur Phrase verkommt – gerade weil die Realität den schönen Worten widerspricht.

    Das Frankfurter „Haus der Demokratie“ bei der Paulskirche gibt es schon: es ist der Römer. Nur erfüllen seine Bewohner diesen Anspruch nicht.
    Foto: Holger Ullmann CC-BY-NC-SA

    Es werden „Pavillons der Demokratie“ durch die Stadtteile getragen, während man gleichzeitig demokratische Rechte ignoriert. Ein „Haus der Demokratie“ wird geplant, während man unabhängige Presse mit absurden Abmahnungen verfolgt. Es ist eine Politik der schönen Bilder – aber der schlechten Praxis.

    Wir brauchen weder Pavillons noch neue Häuser, sondern einen wirklichen demokratischen Habitus im Römer, dem tatsächlichen Haus der Demokratie in Frankfurt.

    Demos, Unterschriftenlisten, Mahnwachen – all das ist richtig. Aber es reicht nicht. Denn in Wahrheit müssen wir jetzt eine neue Phase des Demokratieschutzes einleiten: den konkreten, rechtlich fundierten, institutionellen Widerstand. Das heißt: Wir müssen die Einhaltung demokratischer Rechte erzwingen, auch vor Gericht. Wir müssen Verwaltung und Politik zur Rechenschaft ziehen, durch öffentliche Kritik, durch juristische Mittel, durch Öffentlichkeit.

    Der Feind der Demokratie sitzt nicht nur ganz rechts. Er sitzt auch dort, wo man sich für unfehlbar hält. Wo man glaubt, dass ein bisschen „Demokratierhetorik“ reicht. Und er sitzt dort, wo man mit einem Schulterzucken hinnimmt, dass Recht gebrochen, Kritik unterdrückt und abgemahnt und institutionelle Pflicht schlicht ignoriert wird.

    Frankfurt, September 2025. Die Demokratie stirbt nicht plötzlich. Sie stirbt langsam – wenn niemand mehr widerspricht.

  • Erfolg und Anpassung: Bruce Gilden und das Paradox der Nonkonformität

    „Erfolg ist eine Funktion der Anpassungsleistung.“ Kaum eine Formel beschreibt die Mechanik moderner Gesellschaften treffender. Wer aufsteigt, tut dies in der Regel nicht durch originäre Leistung, sondern durch das geschmeidige Einfügen in Strukturen, durch die Kunst, Erwartungen zu erfüllen. Doch was, wenn der Erfolg auf radikaler Abweichung beruht – wie bei Bruce Gilden?

    Der New Yorker Fotograf, berüchtigt für seine gnadenlosen Blitzaufnahmen aus nächster Nähe, gilt als Inbegriff des Nonkonformismus. Seine Bilder sind Aggressionen gegen das bürgerliche Schönheitsideal: verzerrte Gesichter, Narben, Zähne, die im Blitzlicht schimmern wie Requisiten eines Alptraums. Gilden hat die Regel, dass Street Photography unsichtbar, distanziert, höflich zu sein habe, nie akzeptiert. Sein Werk ist eine permanente Attacke – gegen Passanten, gegen Konventionen, gegen die Idee, man könne das urbane Leben in leiser Eleganz einfangen.

    Und doch: Gilden ist erfolgreich. Er hängt in Museen, wird in Bildbänden kanonisiert, von Magnum aufgenommen. Die Nonkonformität, die ihn auszeichnet, ist längst Teil des kulturellen Angebots geworden. Der Kunstmarkt verlangt nach dem „Anderen“, nach dem Schock des Realen, nach Authentizität als Ware. Gildens Weigerung, sich anzupassen, ist selbst zur Anpassungsleistung geworden: an das System, das den Außenseiter zur Institution erhebt.

    Die Kritische Theorie hätte dieses Paradox kaum treffender beschreiben können. In Gildens Bildern erscheint das Nichtidentische, das, was sich der gesellschaftlichen Glättung widersetzt. Aber im Augenblick seiner Präsentation wird es in die Logik der Verwertung eingesogen: Kataloge, Preise, Sammlerwert. Widerstand, der zur Marke wird, ist noch Widerstand – aber einer, der seine Unschuld verloren hat.

    So zeigt sich an Gilden exemplarisch: Erfolg im Kulturbetrieb ist nicht das Gegenteil von Anpassung, sondern deren höchste dialektische Form. Selbst der radikalste Außenseiter bestätigt, indem er erfolgreich wird, die Regel: Erfolg ist eine Funktion der Anpassungsleistung – selbst dann, wenn er sich als pure Verweigerung geriert.

  • Zwischen Kölner Bucht und Lower East Side – Patti Smith und BAP in Frankfurt und Hanau.

    Das Alter ist kein bloßes biografisches Detail, sondern ein Resonanzraum. Wer als ergrauter Besucher zwischen die Jüngeren und die Gleichaltrigen tritt, begegnet nicht nur der Musik, sondern auch sich selbst – den verpassten Aufständen, den überstandenen Illusionen, den Restbeständen an Utopie. In diesem Spannungsfeld lagen zwei Abende, die sich kürzlich boten: Patti Smith, die Priesterin des Aufbegehrens, am 18. Oktober 2023 im ausverkauften Zoom in Frankfurt. Und „etwas“ später BAP, Chronisten kölscher Alltagswiderständigkeit, am 15. August 2025 im Amphitheater Hanau, vor gut gefüllten Rängen beim vorletzten Halt ihrer Zeitreise-Tour.

    Patti Smith betritt die Bühne des Zoom in Frankfurt, und plötzlich ist der Raum kein Club mehr, sondern ein Ort der Möglichkeit. Man spürt, dass hier etwas geschieht, das nicht völlig planbar ist. Ihre Stimme bricht und erhebt sich zugleich, ihre Gesten sind ungelenk und heilig, ihre Worte – mal rezitiert, mal geschrien – erinnern daran, dass Kunst mehr sein kann als Unterhaltung. Smith verkörpert den Ernst einer Generation, die gelernt hat, dass Schönheit im Bruch liegt. Ihre Lieder sind Fragmente eines offenen Prozesses: nichts Abgeschlossenes, nichts Fertiges. Hier wird nicht Nostalgie verwaltet, sondern Gegenwart erkämpft. Auffällig: Neben den lebensbegleitenden Fans ziehen ihre Konzerte auch jede Menge junge Leute an, die überraschend selbstverständlich Zugang zu ihrer Kunst finden.

    Von der Princess of Punk zur Grande Dame der Rockmusik:
    Patty Smith im Frankfurter Zoom. Foto: Anton Vester

    Bei Wolfgang Niedecken und BAP, ein ganze Zeit später im Amphitheater Hanau, herrscht ein anderer Ton. Es ist Sommerabend, die Luft riecht nach Bier und Bratwurst, und die Bühne gleicht einem gut eingespielten Ritual. Niedecken spricht, singt, erzählt, wie er es seit Jahrzehnten tut. Die Fans nicken, mitsingen ist Pflicht, der kollektive Schulterschluss programmiert. Man könnte sagen: alles in Ordnung. Aber eben auch: alles schon gehört. Rebellion ist hier zur Folklore erstarrt, Sozialkritik zum Soundtrack der Stammtische mit Wohlgefühlgarantie. Hinterher werdet Ihr Euch vierzig Jahre jünger fühlen, verspricht der Entertainer.

    Tatsächlich: Im Publikum finden sich fast ausschließlich Zuhörerinnen und Zuhörer 50+, für die BAP längst zur eigenen Biografie gehört. Und doch ist dieses Publikum gezeichnet von den Deformierungen durch ein Leben mit Entfremdung, Herrschaft und Verdinglichung.

    Erst nach reichlichem Bierkonsum und wenn die Musik gegen Ende die Emotionen durch Tempo und Greatest-Hit-Eigenschaft befeuert, tritt bei einigen ein schwaches Leuchten in die müden Augen, ein vorsichtiges Erinnern, dass man ein anderes Leben wollte. Für sich und für Carmen, Alexandra, den Jupp und auch für den Müsliman. In der Südstadt, auf der Insel und in der ganzen Welt. Aber es ist irgendwie anders gekommen. Nicht nur am 10. Juni, sondern das ganze Leben.

    Die kritische Theorie spricht von „Verwaltung“: sobald das Widerspenstige sich in Routinen verwandelt, verliert es seinen Stachel. Was bei Patti Smith noch wie ein unberechenbarer Aufbruch wirkt, erscheint bei BAP als kulturelle Betriebsamkeit, die niemandem mehr wehtut. Niedecken singt über Ungerechtigkeit, aber stets so, dass das Publikum zustimmen kann, ohne sich selbst zu hinterfragen. Dabei bleibt er die Antwort schuldig, was denn nun richtig sei:

    »Bliev do, wo de bess / halt dich irjendwo fess / un bliev su, wie de woors / jraad’uss« (Jrad’uss) oder die rezitierte Sentenz »Nur wer sich ändert, bleibt sich selbst treu« (Wolf Biermann). Smith dagegen fordert – mit brüchiger Stimme, mit literarischer Härte – dass man sich einmischt, auch wenn es unbequem ist.

    „The people have the power / to wrestle the world from fools.“

    Wolfgang Niedecken auf einem Boot in der Kölner Bucht vor der Deutzer Brücke
    Wolfgang Niedecken in der Kölner Bucht vor Deutzer Brücke (2020)
    Foto: Tina Niedecken

    Die Dialektik dieses Konzertdoppels: Musik kann zugleich Betäubung und Aufweckruf sein. In Hanau wird das Kollektiv in Sicherheit gewogen, im Zoom in Frankfurt wird es auf See hinausgeschickt. Die eine Bühne produziert Zugehörigkeit, die andere Unsicherheit. Beides ist menschlich, doch nur eines bewahrt die Kunst davor, zur bloßen Ware zu werden. Und es passt genau, dass Niedecken Ware, aka „Merch“, reichlich dabei hat. Sein gesprochener Werbeblock für das Fanzine zur Tournee irritierte nur kurz, war ja nur eine „Verbraucherinformation“.

    So bleibt der Eindruck: BAP, das ist die Kölner Bucht – vertraut, berechenbar, ein Heimathafen. Patti Smith, das ist die Lower East Side oder heute eher Red Hook – rau, widersprüchlich, ein Ort, an dem man sich verliert, um sich vielleicht neu zu finden. Die Frage ist, was man sucht: das Bekannte oder die Wahrheit.

    Wer letzteres wollte, kam an diesem Abend im Zoom in Frankfurt näher an die Wahrheit – und zugleich näher an sich selbst.

  • Populismus im Abo: Wie der Focus mit Fleischhauer-Texten Kasse macht

    Es wirkt wie politische Debatte, ist aber industriell hergestellte Erregung. Jan Fleischhauers Kolumne auf Focus Online

    über das Bürgergeld ist ein Beispiel dafür, wie publizistische Formate nach den Gesetzen der Warenproduktion funktionieren: Der Text wird nicht geschrieben, um eine gemeinsame Wahrheit zu erarbeiten, sondern um ein Bedürfnis zu stimulieren, das das Medium selbst erzeugt – und daraus Ertrag zu schlagen.

    Schon Adorno und Horkheimer beschrieben in der Dialektik der Aufklärung, dass in der Massenkultur jedes Werk so „zugeschnitten“ wird, dass es reibungslos konsumierbar bleibt. „Was nicht in die Standardisierung passt, wird von der Industrie aussortiert. Das Zufällige, das Störende, das Ungefügige ist der Kalkulation entzogen.“
    Der Effekt ist planbar: Alles, was echten Austausch anregen könnte – Mehrdeutigkeit, Bruch, Offenheit – wird entfernt. Übrig bleibt ein Produkt, das sich mühelos teilen, empören und monetarisieren lässt.

    Der dramaturgische Baukasten

    Fleischhauers Text folgt einer klaren Sequenz:

    1. Der Aufreger – eine scharfe Zahl mit moralischem Unterton: „Jeder zweite Bürgergeldempfänger besitzt keinen deutschen Pass.“

    2. Die Szene – eine Miniatur wie auf einer Bühne: Ein Mann, eine Frau im Hijab, der Bewerbungsbutton der Bundesagentur. Das ist keine neutrale Beschreibung, sondern das gezielte Setzen von Symbolen, die im kollektiven Gedächtnis bestimmte Assoziationen auslösen.

    3. Die Eskalation – Zahlen zu Kostensteigerungen, pointiert und isoliert präsentiert, bis ein Gefühl der Bedrohung entsteht.

    4. Das Feindbild – Regierung, Verwaltung, SPD, „Bürgergeld-Advokaten“ klar umrissen als Gegenseite.

    5. Der Untergangsverweis – historische Analogien, implizite Warnungen vor dem Zerfall staatlicher Ordnung.

    Diese Struktur ist nicht der Erzählfluss einer offenen Debatte, sondern das „immer Gleiche“: eine wiederholbare, formalisierte Abfolge, die einen verlässlichen Affekt erzeugt – Empörung.

    Vom Diskurs zum Produkt

    Ein herrschaftsfreier Dialog, so wie Habermas ihn beschreibt, setzt Gegenseitigkeit voraus: Jeder muss seine Position begründen, Gegenargumente haben Platz. Fleischhauers Text bietet das Gegenteil: selektive Auswahl von Fakten, Ausschluss abweichender Perspektiven, Personalisierung komplexer Prozesse. Der Leser wird nicht eingeladen, mitzudenken, sondern eingenordet.

    Der Zweck liegt im Geschäftsmodell von Focus Online und Burda: Klicks sind Währung, Empörung ist Rohstoff. Der Text ist ein Content-Baustein in einer Aufmerksamkeitsökonomie, die nach denselben Prinzipien funktioniert wie jede industrielle Massenproduktion: Wiederholung, Standardisierung, maximale Anschlussfähigkeit für den nächsten Erregungszyklus.

    Die Kommerzialisierung des Konflikts

    Was hier verkauft wird, ist nicht Erkenntnis, sondern Haltung. Der Leser soll sich bestätigt fühlen – oder empören. Beides steigert die Verweildauer, triggert das Teilen in sozialen Netzwerken und damit den Anzeigenwert.
    • Affektmobilisierung: Wut bindet stärker als Nüchternheit.
    • Identitätsangebot: „Wir, die sehen, was wirklich los ist“ – ein Wir-Gefühl gegen „die da oben“.
    • Reproduzierbarkeit: Das Feindbild-Set – Ausländer, Kosten, Politikversagen – kann endlos variiert werden.

    Herbert Marcuse hat diesen Mechanismus einmal als „Entpolitisierung durch Konsumierbarkeit“ beschrieben: Konflikte werden auf einfache kulturelle Gegensätze reduziert. So werden sie konsumierbar – und gerade dadurch unschädlich für die Machtstrukturen, die sie zu hinterfragen vorgeben.

    Demokratie als Kulisse

    Die Demokratie erscheint in dieser Inszenierung nur als Hintergrundrequisite: Sie liefert Themen und Skandale, nicht Ziele oder Lösungswege. Der Text kanalisiert Unzufriedenheit in eine ritualisierte Empörung, die in der nächsten Woche durch eine neue ersetzt wird. Die Energie, die in politisches Handeln fließen könnte, wird im Klick-Kreislauf verbrannt.

    Das ist kein Unfall, sondern System: Wer den Mechanismus durchbricht, gefährdet das Geschäftsmodell. Deshalb ist die Wiederholung so treu, die Form so vorhersehbar, der Feind so zuverlässig.

    Politik wird zur Serie – und der Leser zum Abonnenten eines Dauererregungsangebots, das mit öffentlicher Aufklärung ungefähr so viel zu tun hat wie ein Werbeprospekt mit kritischem Journalismus.

  • Die Stille der Einfamilienhäuser

    Mit seinem nun auch in Deutschland erhältlichen Fotobuch C17H18F3NO widmet sich Carsten Prueser der Trostlosigkeit der Neubausiedlungen – und legt, Bild für Bild, den fundamentalen Widerspruch frei, der dem Ideal des privaten Glücks im Eigenheim eingeschrieben ist.

    Titelbild C17H18F3NO2
    C17H18F3NO, Carsten Prueser, FFM-PRESS, Frankfurt am Main.
    68 Seiten, Hardcover, ISBN 978-3819266591, 58 EUR.

    Auf den ersten Blick begegnet man einer vertrauten Szenerie: saubere Wege, akkurat gezogene Kiesbeete, normierte Dachgauben, Carports, weiße Fensterrahmen – das vertraute Vokabular der deutschen Wohnbauprovinz. Diese Häuser könnten überall stehen. Und sie tun es auch: in Heide, Dithmarschen, Schleswig-Holstein – aber ebenso gut im Süden von Köln oder am Rand von Leipzig. Sie markieren nicht nur geografische Ränder, sondern auch die psychogeografische Peripherie eines bürgerlichen Begehrens, das in seiner architektonischen Form längst zur Norm, zur Regel, zum Raster geworden ist.

    Was Prueser hier fotografisch festhält, ist nicht bloß ein Ort, sondern ein Zustand. Sein Buch ist die Kartierung einer kollektiven Illusion – eines Versprechens von Sicherheit, Individualität und Geborgenheit, das sich in der Realität als Gleichförmigkeit, Isolation und Konformitätsdruck erweist. Schon der Titel C17H18F3NO – die chemische Formel für Fluoxetin, bekannt als Prozac – verweist auf den seelischen Unterstrom dieser Siedlungslandschaften. Die gebaute Umwelt erscheint hier nicht als Ausdruck menschlicher Gestaltungskraft, sondern als Sedativum – als medikamentös wirksame Architektur, die eher beruhigt als beheimatet.

    Dass Prueser analog fotografiert – mit Filmmaterial, das Licht streut, Schärfen relativiert und Fehler zulässt – ist dabei kein nostalgisches Stilmittel, sondern ein subversiver Akt. Gerade im Kontrast zur glatten, nahezu digitalen Oberflächen der fotografierten Architektur erzeugt das Analoge eine Reibung, die nicht nur ästhetisch wirksam wird, sondern auch inhaltlich. Denn wo die Gebäude den Eindruck eines industriell gefertigten Glücksprodukts vermitteln, trägt die fotografische Technik jene Imperfektion ins Bild zurück, die dem Ort längst abhandengekommen ist.

    In Dithmarschen, wo die Häuser fotografiert wurden, treffen diese Siedlungen auf eine Region, deren historische Bautraditionen – Friesenhäuser, Reetdächer, rote Klinker – zwar nicht präsent, aber in ihrer Abwesenheit umso deutlicher spürbar sind. Was einst wuchs, wird heute erschlossen. Was sich früher aus der Region heraus entwickelte, wird nun in ihr abgestellt – planbar, kalkulierbar, verwertbar. Die Standardisierung ersetzt nicht einfach die Vielfalt, sie überformt sie mit einem System, das Unterschiede simuliert, wo längst alles auf Vergleichbarkeit und Effizienz getrimmt ist. Gestaltungsziel ist der Marktwert, nicht der menschliche Gebrauch.

    Pruesers Blick ist dabei weder anklagend noch verklärt. Seine Fotografien verweigern sich dem schnellen Urteil. Sie zeigen nicht das Spektakel, sondern die scheinbar nebensächlichen Details – die Hausnummer, das Klingelschild, den Schattenwurf eines Carports – und gerade in dieser unspektakulären Genauigkeit liegt ihre analytische Schärfe. Denn sie legen offen, wie das Versprechen auf Individualität in der Reihung, Rasterung und Wiederholung der Formen untergeht. Die Differenz wird zur bloßen Variation des Immergleichen, das Eigene zur Version einer Vorlage aus dem Katalog.

    In dieser ruhigen, beinahe klinischen Beobachtung liegt eine eigentümliche Kraft. Man beginnt zu verstehen, dass es hier nicht um Architektur geht, sondern um Gesellschaft. Um das Bedürfnis nach Ordnung, nach Zugehörigkeit, nach einem Ort, an dem man sich sicher fühlen kann – selbst wenn er leer ist. C17H18F3NO wird so zur soziologischen Studie in Bildern, zum psychologischen Profil einer Zeit, die das Private als Rückzugsraum idealisiert und dabei übersieht, dass genau dieser Rückzug auch ein Rückzug aus der Welt ist.

    Was bleibt, ist eine subtile, aber unübersehbare Leere. Keine Katastrophe. Kein Drama. Nur der Verdacht, dass etwas fehlt. Dass diese Orte – so heil sie wirken – eine Form von Verstummen darstellen. Nicht das Schweigen als Ruhe, sondern als Abwesenheit von allem, was lebendig ist.

    Die Kulturindustrie, das wusste Adorno, nivelliert den Geschmack, indem sie ihn funktionalisiert. Was früher Ausdruck von Urteilskraft und Erfahrung war, wird heute als Konsumentscheidung quantifiziert. Auch davon erzählt dieses Buch, wenn es zeigt, wie sehr der Raum selbst – das Zuhause – zur Ware geworden ist, zum Symbol für Erfolg, aber eben auch zum Symptom einer normierten Gesellschaft, in der Individualität ein Designmerkmal und kein Ausdruck innerer Freiheit mehr ist.

    C17H18F3NO ist somit weit mehr als eine fotografische Arbeit. Es ist eine stille Anklage. Ein Essay ohne Worte. Ein ästhetisches Störsignal. Nicht gegen die Menschen gerichtet, die in diesen Häusern leben – sondern gegen die Ideologie, die ihnen vorgaukelt, dort würde das Glück wohnen.

    Wer dieses Buch aufschlägt, wird nicht erschüttert – aber auch nicht unberührt bleiben. Die Bilder rühren an etwas, das schwer zu benennen ist, weil es so alltäglich geworden ist: das stille Grauen des bürgerlichen Lebens in einer Welt, in der alles seinen Platz hat – und nichts mehr seinen Sinn.

    Und vielleicht ist genau das die größte Leistung dieses Buches: Es zeigt, ohne zu erklären. Es deutet, ohne zu belehren. Und es bleibt im Gedächtnis – wie ein Satz, den man nicht zu Ende gedacht hat, der aber dennoch weiterklingt.

    C17H18F3NO, Carsten Prueser

    FFM-PRESS, Frankfurt am Main, 68 Seiten, Hardcover, ISBN 978-3819266591

    Erhältlich in jeder deutschen Buchhandlung und online: https://amzn.eu/d/7Wifz3x

  • Die KI handelt nicht – und gerade darin liegt ihre Gefahr

    Ein Versuch über die Abwesenheit des Subjekts im Zeitalter der algorithmischen Vernunft

    Die künstliche Intelligenz tut nichts. Sie besitzt kein Ich, keine Intention, keinen Willen. Sie denkt nicht, handelt nicht, urteilt nicht. Sie rechnet. Ihre Operationen sind bloß formale Ableitungen aus Datenmengen, gespeist von Vergangenem, programmiert von Menschen, trainiert auf den Sedimenten eines stets schon verdinglichten Bewusstseins. Und doch gilt sie vielen als Akteur. Man spricht von Entscheidungen, von Autonomie, gar von Bewusstsein – eine metaphysische Aufladung, die dem technologischen Artefakt das Charisma des Lebendigen verleiht.

    Algorithmus und Subjekt. Bild: KI

    Gerade dieser Widerspruch – dass ein bloß algorithmisches System als Subjekt erscheint, während das wirkliche Subjekt sich entäußert – ist das Moment seiner gefährlichsten Wirksamkeit. Nicht weil die KI „will“, sondern weil der Mensch nicht mehr will. Die Gefahr liegt nicht im Handeln der Maschine, sondern im Rückzug des Menschen aus der Verantwortung.

    Der Mensch projiziert Handlung auf das System, um seiner eigenen Handlung zu entgehen.

    Wie in der dialektischen Umkehrung des Fetischismus wird das von Menschen Geschaffene zur scheinbar autonomen Macht, während die Produzenten sich entmündigen. Die KI tritt auf als neutraler Richter, unbestechlicher Ratgeber, effizienter Entscheider – doch ihre Urteile sind keine Urteile, ihre Objektivität ist der blinde Spiegel historischer Verzerrung.

    Die Maschine entscheidet, wer Kredit erhält, wer verdächtig ist, wer Arbeit verliert. Doch in Wahrheit entscheidet niemand. Denn dort, wo Entscheidung nötig wäre – verantwortliches Urteilen im Sinne des Anderen –, wird sie ausgelagert an eine Instanz, die weder Verantwortung kennt noch Subjekt ist. Die Entlastung des Gewissens fällt mit der Externalisierung der Macht zusammen.

    Das Subjekt wird entbunden – und mit ihm die Moral.

    So entsteht eine neue Form der Schuldlosigkeit: nicht aus Unwissenheit, sondern aus Streuung. Verantwortungsdiffusion ist das Prinzip des kybernetischen Zeitalters. Die Schuld verteilt sich auf Entwickler, Betreiber, Nutzer, Systeme, Statistiken – und bleibt doch nirgends haftbar. Was als rationale Effizienz erscheint, ist in Wahrheit die perfekte Maschinerie der Entlastung. Keiner hat entschieden, also ist keiner verantwortlich. Dass dadurch gerade die schlimmsten Entscheidungen möglich werden, ist die dialektische Ironie des Fortschritts.

    Was bleibt, ist ein System ohne Verantwortung, ein Apparat der Weltbearbeitung, dem nichts mehr entzogen scheint, weil ihm alles zugeführt wird – Daten, Sprache, Bilder, Geschichte. Und doch bleibt er leer: eine große Rechenmaschine ohne Begriff, ein Ausdruck instrumenteller Vernunft, dem die Reflexion auf das Ganze fehlt. Die Totalität, in deren Namen er funktioniert, ist keine gesellschaftliche, sondern eine technische: ein Algorithmus, der die Welt als Datenstruktur missversteht.

    Gerade hierin liegt das Moment des Untergangs: Nicht im Willen der KI zur Herrschaft – sie will nichts –, sondern in der Aufgabe des menschlichen Willens, wo es ernst wird. Die Katastrophe ist nicht, dass Maschinen denken, sondern dass Menschen aufhören zu denken, wo sie sich auf Maschinen verlassen.