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  • Verloren in der Form – Carsten Pruesers „Untitled (Tate Modern, London)“

    Eine digitale Schwarzweißfotografie über Körper, Raum und Architektur

    Die Szene scheint zunächst kühl, fast unbeteiligt: Sichtbeton, nüchtern, rau, gegossen in präzise Geometrien. Eine Treppe führt diagonal durchs Bild, flankiert von massiven Wänden. Alles ist Architektur. Alles ist Struktur. Alles ist Oberfläche. Doch dann, ganz am Rand: ein menschlicher Kopf.

    „Untitled (Tate Modern)“, 2024.

    Carsten Pruesers „Untitled“, aufgenommen in der Tate Modern in London, ist ein stilles Meisterwerk der Ambiguität. Es zeigt ein Treppenhaus, wie es viele Museen aufweisen – doch hier wird es nicht bloß dokumentiert. Es wird dekonstruiert.

    Die Schwarzweiß-Ästhetik reduziert die Welt auf Licht und Schatten, Fläche und Linie. Der Beton wirkt nicht mehr wie Material, sondern wie Manifest. Und doch bricht in diese monumentale Form plötzlich ein Mensch hinein – nicht zentral, nicht beherrschend, sondern scheu, wie ein Zufall oder ein Irrtum der Ordnung.

    Dieser Kopf ist kein Protagonist. Er lugt aus dem rechten Bildrand, beinahe übersehen. Doch genau dadurch bekommt das Bild Tiefe. Denn mit ihm kommt der Zweifel in die Architektur. Der Körper, der nicht vorgesehen war. Der Mensch, der sich nicht einfügt. Das Leben, das der Struktur entweicht.

    In der Tate Modern ist diese Treppe ein Ort der Bewegung – aber Prueser friert sie ein. Kein Gehen, kein Kommen, nur ein Dazwischen. Eine Zwischenzeit. Ein Moment, der die Architektur ihrer Funktion beraubt und sie zur Bühne einer fast metaphysischen Spannung macht: zwischen Form und Leben, Entwurf und Realität, Macht und Subjekt.

    Dass Prueser digital arbeitet, ist hier nicht als Makel zu lesen, sondern als Teil der Aussage. Die Präzision des Digitalen verstärkt die Kälte des Raums, die Strenge des Designs – und macht den menschlichen Einschub umso irritierender. Der Kopf wird zum Störsignal. Oder zum Ruf.

    „Untitled“ ist ein Bild über Sichtbarkeit. Über das, was sich zeigt – und was übersehen wird.
    Es ist eine Fotografie, die nichts behauptet und gerade deshalb alles sagt.


    Foto: Carsten Prueser, „Untitled“, aufgenommen in der Tate Modern, London | courtesy Saatchi Art

  • Wohneigentum – ein blinder Fleck der Herrschaftskritik?

    Eine sozialwissenschaftlich‑philosophische Annäherung aus Sicht der Kritischen Theorie

    von Carsten Prueser

    1. Einleitung: Herrschaft unter dem Dach des Eigenheims
      Die Tradition der Frankfurter Schule versteht „Herrschaft“ nicht vorrangig als offene Repression, sondern als subtile Durchdringung von Alltagsformen, Bedürfnissen und Subjektivitäten. Wohneigentum – scheinbarer Hort von Sicherheit, Intimität und sozialem Aufstieg – erscheint in diesem Raster keineswegs neutral. Es materialisiert Besitzverhältnisse, semantisiert Freiheit und bindet Individuen an das System, das es hervorbringt. Damit wird es zu einem Schlüssel, um die Dialektik von Autonomie und Abhängigkeit in spätkapitalistischen Gesellschaften sichtbar zu machen.
    2. Privateigentum als Kern der frühen Herrschaftskritik
      Für Horkheimer, Adorno und Benjamin ist Privateigentum ein gesellschaftliches Verhältnis, das Rechte asymmetrisch verteilt und damit „objektive Gewalt“ erzeugt. Die verinnerlichte Identifikation mit dem Eigenheim stabilisiert diese Ordnung: Wer „sein eigenes Reich“ verteidigt, verteidigt zugleich die Eigentumsordnung als Ganze. Die frühe Kritische Theorie greift hier Marx’ Einsicht auf, dass „der Besitz zugleich den Besitzer besitzt“ – und kombiniert sie mit Freud, indem sie die libidinöse Besetzung des Heims als psychische Verkettung an die Kette deutet.
    3. Adorno: Die Unmöglichkeit des Wohnens
      In Minima Moralia beschreibt Adorno das Wohnen als historisch zerbrochene Erfahrung: „Wohnen, im eigentlichen Sinne, ist heute unmöglich.“ Das Haus, so Adorno, sei Vergangenheit; statt Geborgenheit liefere das Eigenheim ein „muffiges Abkommen familiärer Interessen“. In späteren Texten radikalisiert er diese Diagnose: Durch die vollständige Verwandlung von Raum in Privateigentum werde Wohnen selbst zum Fetisch – und der notwendige Ausweg bestehe darin, „zu lernen, nicht zuhause zu sein im eigenen Haus“. Herrschaft realisiert sich hier als paradoxe Figur: Das Eigentum, das Sicherheit versprach, erzeugt entwurzelte Subjekte, die ihren Verlust als Privatproblem statt als gesellschaftliche Frage erfahren.
    4. Marcuse: Das Eigenheim als eindimensionale Bedürfnisfabrik
      Herbert Marcuse analysiert in One‑Dimensional Man die „Integration durch Konsum“. Das Eigenheim steht exemplarisch für diese Integration: Hypothek, Einrichtung, Nachbarschaftsethos und suburbanes Auto‑Pendeln übersetzen widerständige Bedürfnisse in verwaltete Glücksversprechen. So wird das Subjekt in eine eindimensionale Lebensform eingeschlossen, in der politisches Begehren in Renovierungskredite und Grillabende transformiert wird. Besitz wird damit zur unsichtbaren Disziplinarmacht, die Autonomie simuliert und Konformität produziert.
    5. Habermas: Kolonialisierung der Lebenswelt durch Immobilienlogik
      Habermas verschiebt den Fokus: Nicht das Bewusstsein, sondern die kommunikativen Strukturen der Lebenswelt werden kolonisiert. Wenn Wohnen primär zur Investitions‑ und Versicherungsfrage wird, dringt ökonomische Steuerungslogik in jene Sphäre ein, in der Verständigung, Solidarität und demokratische Willensbildung verankert sein sollten. Diese Kolonialisierung zeigt sich in der Norm, dass „verantwortungsvolle Bürger“ Eigentümer sein müssten – ein Diskurs, der partizipative Bürgerrechte an hypothekenbasierte Zahlungsfähigkeit knüpft.
    6. Neoliberale Wende: Finanzialisierung und „accumulation by dispossession
      Seit den 1980er‑Jahren hat sich Wohnen vom Gebrauchsgut zum globalen Anlagevehikel entwickelt. David Harveys Konzept der accumulation by dispossession beschreibt, wie Privatisierung, Finanzialisierung und Krise systematisch Vermögen in Immobilienwerte umwandeln und damit Herrschaft neu zentrieren. Studien zur europäischen Wohnungswirtschaft zeigen, wie Pensions‑ und Hedgefonds Milliarden in Miet‑ und Eigentumsportfolios transformieren – befeuert von politischen Regimen, die „Housing as an Asset Class“ aktiv begünstigen. Hier verschiebt sich Herrschaft von der familiären Mikrostruktur zu transnationalen Finanzakteuren, ohne den zwangsförmigen Charakter zu verlieren: Schuldendienst ersetzt Miete, Renditeerwartung ersetzt Wohnbedarf.
    7. Ideologiekritik heute: Generational Wealth und moralische Aufladungen
      Gegenwärtiger Wohndiskurs verklärt Eigentum weiter als Tugend. Informationsabende preisen Hypotheken als „erzwungenes Sparen“, Eigentümer seien „demokratischer“ und sorgten für „Generational Wealth“. Die Kritische Theorie entlarvt diese Rhetorik als Herrschaftsstrategie: Moralische Aufwertung des Besitzes verschiebt strukturelle Verteilungsfragen in individuelle Verantwortung. Wer nicht kaufen kann, gilt als defizitär – ein Mechanismus, der soziale Spaltungen naturalisiert.
    8. Konstellationen von Herrschaft im Eigenheim
      Auf der subjektiven Ebene verinnerlichen Eigentümerinnen und Eigentümer ökonomische Zwänge, weil das Eigenheim als vermeintlicher Hort von Sicherheit, Status und Identität sie unablässig an Hypothekenraten und Werterhalt bindet. Sozial gerinnt Herrschaft, wenn homogene Nachbarschaften mittels NIMBY‑Politik unerwünschte Personengruppen ausgrenzen und so Raumkontrolle ausüben. Ökonomisch wirkt das Eigenheim als Disziplinarinstrument: Kredit, Wertsteigerungserwartung und immer neue Finanzprodukte verschulden die Besitzenden, während Kapitalanleger Renditen abschöpfen. Politisch schließlich schlägt sich diese Konstellation in Steuerprivilegien und einer mächtigen Eigentümerlobby nieder, die öffentliche Entscheidungen verzerrt und den gesetzlichen Rahmen zugunsten des Besitzstandes ausrichtet.
    9. Emanzipatorische Ausblicke
    • De‑Kommodifizierung: Genossenschaften, Mietshäuser‑Syndikate und kommunales Bodenrecht unterlaufen die Warenform.
    • Re‑Politisierung: Kampagnen wie „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ zeigen, wie Eigentumsfragen wieder als Machtfragen verhandelt werden.
    • Räumliche Experimente: Formen des gemeinsamen Wohnens, die Besitzlogiken aufbrechen, aktualisieren Adornos Ethik der „Nicht‑Zuhause‑heit“ als produktive Unruhe.
    1. Schluss
      Wohneigentum fungiert im spätkapitalistischen Gefüge als komplexes Herrschaftsinstrument: Es bindet Subjekte affektiv, verschuldet sie ökonomisch, homogenisiert sie sozial und bevorzugt sie politisch. Die Kritische Theorie zeigt, dass diese Macht nicht in sichtbaren Ketten, sondern in Grundrissen, Grundbüchern und Gewohnheiten wirkt. Eine befreite Gesellschaft müsste deshalb nicht nur andere Häuser bauen, sondern auch das Prinzip des Hauses – als Symbol des Mein und Nicht‑Dein – überwinden. Nur so lässt sich Adornos paradoxe Forderung erfüllen, „nicht zuhause zu sein – und doch wohnen zu können“.