von Carsten Prueser
Die Krise der deutschen Leitmedien ist längst mess- und zählbar – und sie ist selbst verschuldet. Im Jahr 2001 verkaufte die Frankfurter Allgemeine Zeitung noch gut 400 000 Exemplare pro Tag; heute sind es keine 180 000 mehr – ein Minus von über 56 Prozent.   Die Süddeutsche Zeitung fiel im selben Zeitraum von rund 431 000 auf knapp 270 000 Stück: minus rund 37 Prozent.  Nur Die Zeit konnte – dank E-Paper-Boom – ihre Verkaufszahl von 443 000 (2001) auf zuletzt über 630 000 (2025) steigern.  Doch der statistische Ausreißer ändert nichts am Trend: Das einstige Vertrauensmonopol bröckelt, weil die Leserinnen und Leser den Klartext vermissen.
Wenn Formulierungen zur Filterblase werden
Deutsche Qualitätsredaktionen paraphrasieren unentwegt – und bewerten dabei schon, bevor Fakten auf dem Tisch liegen:
• „Ein täglich erscheinendes Massenblatt“ – so nennt die FAZ ihre Konkurrenz, statt schlicht „Bild“ zu schreiben. Das ist nicht nur schmallippig, es ist eine Geringschätzung der Leserschaft: Wir sagen dir nicht, wer es war, du wirst es schon erraten.
• Ein Politiker twittert: „Geflüchtete sind eine Gefahr für unsere Kultur.“ Die Zeitung macht daraus: Er äußerte sich kontrovers zum Thema Migration. Wertung statt Wortlaut.
• Eine Konzernsprecherin gesteht: „Wir haben Abgastests manipuliert.“ Die Meldung lautet: Es kam zu Unregelmäßigkeiten bei den Messungen.
• Ein Ex-Minister ruft Journalisten „Volksverräter“. Die Nachricht: C übte in einer scharfen Wortmeldung Medienschelte.
• Eine Neonazi-Gruppe verbreitet Anschlagspläne auf Telegram. In der Zeitung heißt das: Eine dem rechten Spektrum zugeordnete Gruppierung äußerte Gewaltfantasien.
Jede dieser Umschreibungen ist formal korrekt – und dennoch bevormundend. Die Redaktion kennt den Originalton, kennt Ross und Reiter, reicht dem Publikum aber nur das destillierte Urteil. Wer so arbeitet, behauptet implizit: Es reicht, wenn wir die Details kennen, wir erklären dir die Welt.

Die Quittung auf dem IVW-Kontoauszug
Die Auflagenzahlen zeigen, was davon zu halten ist. Menschen, die täglich mit Desinformation, Social-Media-Echo und politischem Spin konfrontiert sind, sehnen sich nach belastbaren Quellen. Doch anstatt Klartext zu liefern, spielen manche Redaktionen Rätselraten: BILD wird zum „Massenblatt“, Rassismus zum „Kontroversen“, Manipulation zum „Unregelmäßigkeit“. Wer derart verklausuliert, verliert das Wichtigste überhaupt – Vertrauen.
Dass ausgerechnet viele US-Medien, oft als schrill verschrien, hier Vorbilder sind, sagt viel über den Zustand bei uns: Dort heißt es “Bild newspaper reported …“ – fertig. Kein Feuilleton-Augenzwinkern, kein Paternalismus. Nur Fakten, dann Bewertung. Genau diese Trennung braucht eine Demokratie, die auf die Urteilskraft ihrer Bürger setzt.
Der demokratische Imperativ: Fakten vor Haltung
Persönlichkeitsrechte schützen? Ja, unbedingt. Sorgfalt, Gegenrecherche, Fairness? Ebenfalls. Aber wer aus juristischer Vorsicht eine Sprachtradition der Verhüllung macht, erzieht sich sein Publikum ab. Die Zahlen sind eindeutig – sie fallen, weil der Leser erkennt, dass zwischen Information und Interpretation ein trüber Nebel liegt.
Die Lösung ist einfach: Ross und Reiter nennen, Originaltöne abdrucken, Fehltritte benennen und erst dann kommentieren. Nicht „kontrovers“, sondern „er sagte genau das“. Nicht „dem rechten Spektrum zugeordnet“, sondern – wenn es zutrifft – „rechtsextrem“. Nicht „Massenblatt“, sondern „Bild“. Alles andere ist Distinktionsgewinn für die Redaktion und Informationsverlust für die Gesellschaft.
Sagt doch einfach, was ist. Wer das nicht tut, darf sich über sinkende Auflagen und schwindende Glaubwürdigkeit nicht wundern.