Schlagwort: Fotografie

  • Studium und punctum in der Ära der verwalteten Sichtbarkeit

    Warum Barthes heute radikaler ist als seine Interpreten – und warum seine Begriffe eine Waffe gegen die identitäre und algorithmische Erschöpfung der Fotografie bleiben.

    Es gehört zu den Ironien der Kulturtheorie, dass ausgerechnet Roland Barthes’ Begriffe studium und punctum – gedacht als poetische Miniaturen eines individuellen Blicks – zu einer Art akademischem Plastiksatz erstarrten. Man begegnet ihnen inzwischen wie man Layer in Photoshop begegnet: als verschiebbare Bausteine, mit denen sich jedes Bild problemlos erklären lässt. Genau dies wäre Barthes’ Horror gewesen. Die helle Kammer ist nicht Theorie im strengen Sinn, sondern eine Trauerprosa, eine Meditation über die Übermacht der Bilder und ein Versuch, in dieser Übermacht noch ein Stück unverfügbarer Subjektivität zu behaupten.

    Gerade deshalb verdient der Text eine Relektüre, die ihn aus dem akademischen Formalin befreit.

    Das studium: die nivellierende Ordnung der Sichtbarkeit

    Barthes’ studium bezeichnet das kulturell Erlernbare – die soziale Grammatik eines Bildes. In der Gegenwart ist dieses studium jedoch nicht mehr kulturell, sondern technisch codiert. Es wird nicht von Kunstgeschichte oder bürgerlicher Bildung geformt, sondern von Plattform-Ökonomien, von Recommendation Engines, visuellen Normierungsmechanismen, dem kapitalistischen Imperativ der Konformität.

    Das studium der Gegenwart ist algorithmischer Konsens.

    Das Bild wird nicht mehr Ausdruck oder Spur, sondern Produkt einer industriellen Affektökonomie. Die verwaltete Sichtbarkeit erlaubt nur zwei Modi: das Gefällige und das Empörende. Dazwischen verschwindet die Welt.

    Das studium ist damit die perfekte Kategorie unserer Epoche: der Raum, in dem jedes Bild identisch wird mit den Erwartungen der Plattformen, der Milieus, der identitären Szenen.

    Das punctum: der Riss, der nicht verwaltet werden kann

    Das punctum ist der prekäre Moment, in dem ein Bild aus dieser Ordnung herausfällt. Barthes nennt es den „Stich“ – ein Detail, das den Betrachter aus dem Gleichgewicht bringt, ohne erklärbar zu sein.

    Das punctum ist ein Ereignis der Nicht-Identität: ein kleiner Aufstand gegen die totalisierte Kultur der Lesbarkeit. Es ist ein Affekt ohne Algorithmus, eine Form, die sich nicht kapitalisieren lässt.

    In einer Welt, die jeden Blick ökonomisiert, ist das punctum der winzige Rest Freiheit, den die Bilderindustrie nicht einfängt.

    Gegen die identitäre Erschöpfung des Blicks

    Die identitäre Linke wie die identitäre Rechte – ideologische Antipoden, ästhetische Zwillinge – haben die Fotografie längst in eine Bühne des Gruppenperformens verwandelt. Bilder dienen nicht mehr der Begegnung mit Wirklichkeit, sondern der Bestätigung von Rollen: Opfer, Täter, Aktivist, Held, Zeuge.

    Das studium ist hier der normative Raum der identitären Ästhetik: Sag, was du bist. Zeig, zu wem du gehörst.

    Das punctum verweigert diese Logik. Es entzieht sich dem Kollektivismus und öffnet einen gefährlich offenen Raum des Subjekts. Damit ist das punctum überraschend kompatibel mit dem humanistisch-progressiven Ethos der Frankfurter Nachrichten: dem Beharren auf Freiheit, Nicht-Identität, individueller Erfahrung.

    Fotografie als Widerstandspraxis

    Für eine fotografische Praxis heute – journalistisch, dokumentarisch oder künstlerisch – bedeutet das:

    • Das studium ist unvermeidlich: Jede Aufnahme trägt Codes, Oberflächen, Erwartungen.
    • Das punctum jedoch muss ermöglicht werden: durch Kontingenz, durch Zeit, durch Unberechenbarkeit.

    Das punctum entsteht dort, wo die Fotografie sich weigert, eine Funktion zu erfüllen. Dort, wo sie nicht illustriert, nicht moralisiert, nicht performt.

    Jenseits von Barthes: punctum im vernetzten Zeitalter

    Eine Theorie der Fotografie im 21. Jahrhundert müsste Barthes nicht ersetzen, sondern radikalisieren. Das punctum ist heute weniger ein Detail im Bild als eine Störung im Informationsfluss: ein Moment, in dem die Logik der Sichtbarkeit aussetzt.

    Das punctum ist die letzte unverwaltete Zone im Bild – und vielleicht die letzte unverwaltete Zone im Subjekt.

    Barthes’ Begriffe sind nicht nostalgisch, nicht sentimental, nicht „schön“. Sie sind politisch – gerade weil sie das Politische nicht direkt adressieren.

    Im Zeitalter der algorithmischen Sichtbarkeit ist das studium die Ordnung der Macht. Das punctum ist ihre Unterbrechung.

    Und genau dort beginnt – immer noch, und vielleicht dringlicher denn je – die Freiheit der Fotografie.

  • Erfolg und Anpassung: Bruce Gilden und das Paradox der Nonkonformität

    „Erfolg ist eine Funktion der Anpassungsleistung.“ Kaum eine Formel beschreibt die Mechanik moderner Gesellschaften treffender. Wer aufsteigt, tut dies in der Regel nicht durch originäre Leistung, sondern durch das geschmeidige Einfügen in Strukturen, durch die Kunst, Erwartungen zu erfüllen. Doch was, wenn der Erfolg auf radikaler Abweichung beruht – wie bei Bruce Gilden?

    Der New Yorker Fotograf, berüchtigt für seine gnadenlosen Blitzaufnahmen aus nächster Nähe, gilt als Inbegriff des Nonkonformismus. Seine Bilder sind Aggressionen gegen das bürgerliche Schönheitsideal: verzerrte Gesichter, Narben, Zähne, die im Blitzlicht schimmern wie Requisiten eines Alptraums. Gilden hat die Regel, dass Street Photography unsichtbar, distanziert, höflich zu sein habe, nie akzeptiert. Sein Werk ist eine permanente Attacke – gegen Passanten, gegen Konventionen, gegen die Idee, man könne das urbane Leben in leiser Eleganz einfangen.

    Und doch: Gilden ist erfolgreich. Er hängt in Museen, wird in Bildbänden kanonisiert, von Magnum aufgenommen. Die Nonkonformität, die ihn auszeichnet, ist längst Teil des kulturellen Angebots geworden. Der Kunstmarkt verlangt nach dem „Anderen“, nach dem Schock des Realen, nach Authentizität als Ware. Gildens Weigerung, sich anzupassen, ist selbst zur Anpassungsleistung geworden: an das System, das den Außenseiter zur Institution erhebt.

    Die Kritische Theorie hätte dieses Paradox kaum treffender beschreiben können. In Gildens Bildern erscheint das Nichtidentische, das, was sich der gesellschaftlichen Glättung widersetzt. Aber im Augenblick seiner Präsentation wird es in die Logik der Verwertung eingesogen: Kataloge, Preise, Sammlerwert. Widerstand, der zur Marke wird, ist noch Widerstand – aber einer, der seine Unschuld verloren hat.

    So zeigt sich an Gilden exemplarisch: Erfolg im Kulturbetrieb ist nicht das Gegenteil von Anpassung, sondern deren höchste dialektische Form. Selbst der radikalste Außenseiter bestätigt, indem er erfolgreich wird, die Regel: Erfolg ist eine Funktion der Anpassungsleistung – selbst dann, wenn er sich als pure Verweigerung geriert.

  • Wo gehen die Tage hin, wenn sie vergehen?

    Where do days go when they go by? Wo gehen die Tage hin, wenn sie vergehen?
    „Where do days go…“ Marktstätte Konstanz, Fotografie von Carsten Prueser, 2024.

    Mitten auf dem Asphalt der Konstanzer Markstätte, einem Ort des Handels, des Flanierens, des Verweilens, sind gelbe Buchstaben aufgetragen:


    „WHERE DO DAYS GO WHEN THEY GO BY?“


    Ein Kind schreitet darüber hinweg – beiläufig, mit einem Ausdruck konzentrierter Zerstreuung. Um es herum: Straßencafés, Schaufenster, Passanten. Die Umgebung glänzt im Sonnenlicht des Konsums.

    Carsten Pruesers Fotografie hält diesen Moment fest – nicht frontal, nicht arrangiert, sondern aus der leichten Schräge, mit zurückgenommener Geste, fast so, als hätte sich die Kamera selbst in den Strom des Alltags eingeschrieben. Der Blick ist ruhig, beobachtend. Nichts ist überbetont, und gerade darin liegt ihre Kraft. Sie ist keine Inszenierung, sondern ein Innehalten.

    Die zentrale Achse des Bildes – das Kind, die aufgemalte Frage, der helle Steinboden – führt das Auge vom Vordergrund in eine diffuse Tiefe, in der die Stadt sich verliert. Es gibt keine klare Fluchtlinie, sondern eine Art oszillierendes Gleichgewicht zwischen Vordergrund und Hintergrund. Die Frage auf dem Boden wird dabei zum Ankerpunkt: Sie liegt wörtlich auf dem Weg, wortwörtlich zu Füßen des Kindes – wie ein stilles Mahnmal, das übertreten wird und dadurch erst sichtbar wird.

    Das Kind, das über die Schrift hinweggeht, scheint von ihr unberührt – und genau darin liegt eine doppelte Lesbarkeit: Zum einen ist es das Symbol für Unschuld, für eine noch nicht vereinnahmte Zeit. Zum anderen könnte man auch sagen: Die Frage verhallt. Kein Erwachsener bleibt stehen, niemand beugt sich nieder. Die Zeit ist zur Durchgangsware geworden, wie die Dinge in den Schaufenstern ringsum.

    Walter Benjamin hätte hier von der „Jetztzeit“ gesprochen – von einem Moment, in dem Geschichte und Gegenwart zusammenzucken. Das Bild ist so ein Moment. Nicht, weil es etwas Spektakuläres zeigt, sondern weil es in seiner Lakonie eine Wahrheit aufscheinen lässt: dass unsere Tage nicht einfach vergehen, sondern vernutzt werden. Dass die Erfahrung von Zeit – von wirklicher, gelebter Zeit – rar geworden ist.

    Adorno hätte das Bild womöglich als Dialektik im Stillstand verstanden: als Konstellation, in der das Nichtidentische aufscheint. Die kindliche Bewegung, der Satz am Boden, die festgefrorene Stadt – sie stehen in einem Verhältnis gegenseitiger Spannung. Und mittendrin: die Ahnung, dass es auch anders sein könnte.

    Denn im Kapitalismus ist Zeit kein Geschenk, sondern eine Ressource. Menschen verkaufen ihre Lebenszeit, Stunde für Stunde, im Tausch gegen Geld. Was vom Tag bleibt, ist das, was nicht verrechnet wurde – und genau diese Reste fragt die Schrift auf dem Boden an. Die Tage „gehen“ nicht nur – sie werden getaktet, verwertet, verplant. Das Kind im Bild steht – vielleicht zum letzten Mal – außerhalb dieses Tauschverhältnisses.

    Und dennoch: Die Fotografie ist kein romantisches Idyll. Sie ist Beobachtung – und, in ihrem besten Sinne, Kritik. In ihr blitzt auf, was Benjamin das „dialektische Bild“ nannte: ein Fragment der Gegenwart, das sich gegen die falsche Totalität behauptet. Nicht laut, nicht plump. Sondern in der Art, wie ein einzelner Blick, festgehalten in Licht und Zeit, die Frage stellt, die zu selten gehört wird:


    Wo gehen unsere Tage hin, wenn sie vergehen?

  • Kritik eines fotografischen Statements aus Willets Point, Queens

    Kritik eines fotografischen Statements aus Willets Point, Queens

    Ohne Titel, Willet Point, Queens, NYC
    „Ohne Titel — Willet Point, Queens“. Carsten Prueser, 2019.



    Zur Ästhetik des Urbanen am Ende des industriellen Zeitalters

    von Martin Schwendtler

    Dieses kraftvolle fotografische Werk, aufgenommen in Willets Point, Queens, NYC – einem der letzten urban-industriellen Slum-Enklaven in New York City – ist mehr als eine Momentaufnahme. Es ist ein dokumentarisch-ästhetisches Zeugnis spätkapitalistischer Verhältnisse und erzählt in leuchtendem Gelb und rostigem Braun von Herrschaft, Globalisierung, Migration und der Verdinglichung des Menschen.

    Die gestapelten gelben Stahlcontainer – industriell genormt, schwer, funktional – erscheinen wie uniformierte Körper, ihrer Individualität beraubt, entleert ihrer Funktion, nur noch Zeichen und Chiffren. Diese Container tragen die Spuren der Nutzung und Abnutzung – Rost, Kratzer, abgeplatzte Farbe –, wie Körper, die durch das Getriebe der globalen Arbeitsteilung gegangen sind. Sie stehen stellvertretend für die unsichtbaren Existenzen, die in urbanen Schattenräumen wie Willets Point arbeiten: marginalisiert, prekarisiert, systemrelevant und doch zugleich unsichtbar.

    Die Szenerie ist eingerahmt von Blechwänden, Schutt, provisorischer Infrastruktur. Es gibt keine Ornamentik, keine Menschen, keine Werbung – nur das, was bleibt, wenn der Kapitalismus sich seiner Oberfläche entledigt. Der Ort, an dem der Konsum endet, bevor er in den nächsten Zyklus überführt wird. Willets Point ist ein „nicht-repräsentierter“ Raum – eine Randzone der Weltmetropole, in der sich die Rückseite der Globalisierung manifestiert.

    Die hier sichtbare Ordnung der Container ist keine zufällige. Sie ist Ausdruck technokratischer Kontrolle über das Chaotische, über das „Unreine“ (im Sinne Mary Douglas’). Es ist der Versuch, die Beweglichkeit der Migration, der Körper, der Dinge zu normieren und in eine industrielle Grammatik zu überführen. Die Abwesenheit von Menschen in der Aufnahme ist dabei kein Mangel, sondern ein Verweis: auf die Unsichtbarmachung der Arbeit und derjenigen, die sie verrichten. Ihre Präsenz ist gespiegelt in den Spuren, im Werkzeug, in der Struktur.

    So wird das Bild zur kritischen Parabel auf Verdinglichung – im Sinne der Kritischen Theorie. Die Menschen erscheinen nur durch das, was sie tun; und das, was sie tun, wird zur Ware, zum Ding. Die Container sind das Medium dieser Transformation: Dinge, die durch Menschen bewegt werden, um Dinge zu transportieren, die wiederum Menschen bewegen.

    Diese Fotografie ist keine bloße Stadtansicht – sie ist ein politischer Text. Sie zeigt ein urbanes Biotop, das im Begriff steht, von der Gentrifizierung verschlungen zu werden, aber noch Zeugnis ablegt vom Innersten der modernen Herrschaft: der Kontrolle über Raum, Körper und Arbeit. In der Ästhetik des Banalen findet sich hier eine große Würde – und eine stille Anklage.