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  • Der neue Antisemitismus: der alte Kinderblut-Mythos in neuer Verpackung

    Warum das antisemitische Narrativ vom „Kindermord“ zurückkehrt – und was es über die Gegenwart verrät

    Frankfurt, 30. August 2025. Der Mann mit dem schwarzen T-Shirt steht inmitten der Menge, die Fahnen wehen, die Parolen sind routiniert. „Israel tötet gezielt Kinder“, steht in weißen Blockbuchstaben auf seiner Brust. Das Foto wirkt wie ein weiteres Dokument aus dem globalisierten Protest-Theater unserer Gegenwart. Doch wer genauer hinsieht, erkennt eine tiefere, unheimliche Kontinuität: Der Vorwurf ist nicht modern, sondern mittelalterlich. Er ist die aktualisierte Variante des Ritualmordmythos, jenes antisemitischen Kernnarrativs, das Europa seit fast 900 Jahren begleitet.

    Antisemitisches Kernnarrativ seit über 1000 Jahren, hier und heute in Frankfurt. Foto: Carsten Prueser

    Die Anklage, Juden würden Kinder töten, tritt erstmals 1144 in Norwich auf. Sie war schon damals frei erfunden, religiös wie rechtlich unmöglich, erwies sich aber als politisch extrem wirkmächtig: Sie legitimierte Pogrome, Enteignungen, Ghettoisierungen. Der Vorwurf funktionierte nie über Logik, sondern über moralische Überwältigung. Kinderschutz ist der stärkste Reflex, den eine Gesellschaft kennt. Wer einer Gruppe „gezielten Kindermord“ unterstellt, rückt sie aus der Sphäre des Menschlichen heraus. Der Mythos befreit von Ambivalenz und macht Gewalt denkbar, manchmal sogar zwingend.

    Diese Struktur wirkt bis heute weiter. Der Satz auf dem T-Shirt ist kein politisches Argument; er ist eine Dämonisierung. Israel erscheint nicht als Staat, der kritisierbar wäre, sondern als metaphysische Bedrohung – als Kollektiv, das „gezielt“ Kinder ermordet. Das ist keine Analyse des Nahostkonflikts. Das ist die Reaktivierung eines archaischen Feindbildes, das nur seine Oberfläche gewechselt hat. Antisemitismus in Reinform. Die Codes sind neu, die Logik ist alt.

    Die Szene erhält ihre eigentliche Wucht, wenn man sie in ihre räumliche Realität einbettet. Der Demonstrationszug am 30. August formiert sich in einem Gebiet, das in Frankfurt ein historisches Nervenzentrum ist: die Großmarkthalle, heute Sitz der Europäischen Zentralbank. Auf dem Weg dorthin liegen eingelassene Texttafeln im Boden, Zitate von Zeitzeugen der Deportationen.

    Genau auf diesem Weg wurden die Frankfurter Juden vor achtzig Jahren in die Vernichtung getrieben. Heute marschieren hier Menschen mit Keffiyehs, Fahnen und Parolen, die sich offen mit Hamas-Positionen identifizieren – einer Organisation, deren Charta in der Tradition klassischer eliminatorischer Judenfeindschaft steht. Die historische Ironie ist so scharf, dass man sich fragt, wie man sie übersehen kann: Auf dem Deportationsweg eines antisemitischen Vernichtungsprojekts reproduzieren Demonstranten das älteste antisemitische Narrativ Europas. Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie hinterlässt Resonanzräume, in denen bestimmte Töne leichter wieder anschlagen.

    Man sollte den Menschen auf dem Foto nicht dämonisieren. Er ist kein Täter, sondern ein Symptom. Die eigentliche Diagnose betrifft die politische Kultur, die Komplexität nicht mehr aushält und stattdessen auf mythische Vereinfachungen setzt. Sie betrifft die Bereitschaft, die Vergangenheit nur als moralisches Museum zu betrachten, statt als lebendiges Warnsystem. Und sie betrifft eine Öffentlichkeit, die gelernt hat, in Affekten zu sprechen, aber nicht mehr in Begriffen.

    Bezeichnend war an diesem Tag auch das politische Begleitpersonal: Eine ganze Reihe Frankfurter Stadtverordneter war als sogenannte Beobachter anwesend, um – so wurde erklärt – mögliche Übergriffe der Polizei zu dokumentieren und die Versammlungs- und Meinungsfreiheit der Demonstranten zu sichern. Doch gerade diese selbsternannte Hüterrolle enthüllt ein erschreckendes Verschiebungsphänomen: Während auf dem historischen Deportationsweg Narrative reproduziert wurden, die in ihrer Struktur an die ältesten antisemitischen Mythen Europas anschließen, richtete sich der Blick der parlamentarischen Delegation nicht auf die Symbolik, nicht auf den Inhalt, nicht auf die offen geäußerten Parolen, sondern ausschließlich auf die Polizei. Als sei die Gefahr nicht der antisemitische Gehalt der Demonstration, sondern die Polizei, die ihn dokumentieren könnte. Dieses selektive Beobachten ist selbst Teil der politischen Kultur, die das Problem nicht sieht, weil sie sich angewöhnt hat, es nicht sehen zu wollen.

    Die Gegenwart liebt klare Feindbilder und schnelle Gewissheiten. Der Konflikt im Nahen Osten ist dafür besonders anfällig: Er ist emotional überladen, globalisiert und politisch hochgradig instrumentalisierbar. Doch wer ihn auf die Formel „gezielter Kindermord“ reduziert, übergibt sich an die Logik des Mythos – und verlässt die Zone politischer Urteilskraft. Der Satz auf dem T-Shirt erzählt nichts über Gaza. Er erzählt etwas über die psychische Ökonomie einer Gesellschaft, die in Krisenlagen Regression für Erkenntnis hält.

    1940er Jahre: Der Weg in den Tod für die Frankfurter Juden.
    Heute: Aufmarsch der Pro-Hamas-Demonstranten. Foto: Carsten Prueser

    Der Weg an der Großmarkthalle erinnert daran, wohin solche Erzählungen führen können, wenn sie hegemonial werden. Er ist Beton gewordene Mahnung. Dass ausgerechnet hier, auf dieser historischen Strasse zur Vernichtung, neue Formen antisemitischer Projektion marschieren, ist kein Zufall. Es zeigt, wie nah die Vergangenheit der Gegenwart bleibt, wenn der moralistische Reflex stärker ist als die historische Vernunft.