Schlagwort: KI

  • Die KI handelt nicht – und gerade darin liegt ihre Gefahr

    Ein Versuch über die Abwesenheit des Subjekts im Zeitalter der algorithmischen Vernunft

    Die künstliche Intelligenz tut nichts. Sie besitzt kein Ich, keine Intention, keinen Willen. Sie denkt nicht, handelt nicht, urteilt nicht. Sie rechnet. Ihre Operationen sind bloß formale Ableitungen aus Datenmengen, gespeist von Vergangenem, programmiert von Menschen, trainiert auf den Sedimenten eines stets schon verdinglichten Bewusstseins. Und doch gilt sie vielen als Akteur. Man spricht von Entscheidungen, von Autonomie, gar von Bewusstsein – eine metaphysische Aufladung, die dem technologischen Artefakt das Charisma des Lebendigen verleiht.

    Algorithmus und Subjekt. Bild: KI

    Gerade dieser Widerspruch – dass ein bloß algorithmisches System als Subjekt erscheint, während das wirkliche Subjekt sich entäußert – ist das Moment seiner gefährlichsten Wirksamkeit. Nicht weil die KI „will“, sondern weil der Mensch nicht mehr will. Die Gefahr liegt nicht im Handeln der Maschine, sondern im Rückzug des Menschen aus der Verantwortung.

    Der Mensch projiziert Handlung auf das System, um seiner eigenen Handlung zu entgehen.

    Wie in der dialektischen Umkehrung des Fetischismus wird das von Menschen Geschaffene zur scheinbar autonomen Macht, während die Produzenten sich entmündigen. Die KI tritt auf als neutraler Richter, unbestechlicher Ratgeber, effizienter Entscheider – doch ihre Urteile sind keine Urteile, ihre Objektivität ist der blinde Spiegel historischer Verzerrung.

    Die Maschine entscheidet, wer Kredit erhält, wer verdächtig ist, wer Arbeit verliert. Doch in Wahrheit entscheidet niemand. Denn dort, wo Entscheidung nötig wäre – verantwortliches Urteilen im Sinne des Anderen –, wird sie ausgelagert an eine Instanz, die weder Verantwortung kennt noch Subjekt ist. Die Entlastung des Gewissens fällt mit der Externalisierung der Macht zusammen.

    Das Subjekt wird entbunden – und mit ihm die Moral.

    So entsteht eine neue Form der Schuldlosigkeit: nicht aus Unwissenheit, sondern aus Streuung. Verantwortungsdiffusion ist das Prinzip des kybernetischen Zeitalters. Die Schuld verteilt sich auf Entwickler, Betreiber, Nutzer, Systeme, Statistiken – und bleibt doch nirgends haftbar. Was als rationale Effizienz erscheint, ist in Wahrheit die perfekte Maschinerie der Entlastung. Keiner hat entschieden, also ist keiner verantwortlich. Dass dadurch gerade die schlimmsten Entscheidungen möglich werden, ist die dialektische Ironie des Fortschritts.

    Was bleibt, ist ein System ohne Verantwortung, ein Apparat der Weltbearbeitung, dem nichts mehr entzogen scheint, weil ihm alles zugeführt wird – Daten, Sprache, Bilder, Geschichte. Und doch bleibt er leer: eine große Rechenmaschine ohne Begriff, ein Ausdruck instrumenteller Vernunft, dem die Reflexion auf das Ganze fehlt. Die Totalität, in deren Namen er funktioniert, ist keine gesellschaftliche, sondern eine technische: ein Algorithmus, der die Welt als Datenstruktur missversteht.

    Gerade hierin liegt das Moment des Untergangs: Nicht im Willen der KI zur Herrschaft – sie will nichts –, sondern in der Aufgabe des menschlichen Willens, wo es ernst wird. Die Katastrophe ist nicht, dass Maschinen denken, sondern dass Menschen aufhören zu denken, wo sie sich auf Maschinen verlassen.

  • Jenseits des Begriffs—Warum KI das Menschsein nie ganz erfassen wird

    Philosophie ist auf den Begriff begrenzt. Ihre Ausdrucksform ist der Text, ihre Heimat das Argument, ihre Kraft liegt im Denken. Seit Platon zähmen wir die Welt in Begriffe, formen aus dem Chaos der Erscheinung eine Ordnung der Ideen. Doch das Leben selbst gehorcht anderen Gesetzen. Es ist nicht logisch, sondern affektiv. Nicht der Logos regiert das Dasein, sondern das Begehren, die Angst, die Hoffnung. Emotion schlägt Konzept. Gefühl durchkreuzt Theorie.

    Und so ist die Philosophie – in all ihrer Schönheit und Strenge – eine Disziplin der Distanz. Sie ist, wie Derrida schrieb, ein Spiel mit Differenz, ein endloses Verschieben von Bedeutung im Gewebe des Textes. Aber wer je geliebt hat, getrauert, gefürchtet oder sich schuldig gefühlt, der weiß: Diese Erfahrung lässt sich nicht einholen durch Sprache. Kein Begriff fasst den Kloß im Hals. Kein Text transzendiert den Moment des Erzitterns.

    Gerade hier, in dieser Kluft zwischen Begriff und Gefühl, zeigt sich auch die Grenze künstlicher Intelligenz. KI – wie die Philosophie – operiert über Symbole. Sie rechnet, sie erkennt Muster, sie analysiert Sprache. Doch was sie nicht kennt, ist Leiden. Nicht weil sie sie nicht „erleben“ kann – das ist eine banale Feststellung –, sondern weil sie die Struktur des Emotionalen nicht hat: den Körper, das Begehren, die Verletzlichkeit. Eine KI kennt keine Ergriffenheit, keine Scham, keine Liebe. Alles, was sie über Emotion weiß, sind Parameter, synthetische Schätzungen, Textbausteine.

    Dabei ist der Mensch ein emotionales Wesen, lange bevor er ein denkendes ist. Schon die ersten Bindungen – Mutter, Hunger, Schmerz – sind nicht kognitiv, sondern leiblich. Selbst unsere komplexesten Begriffe – Gerechtigkeit, Freiheit, Wahrheit – sind nicht nur Resultate rationaler Reflexion, sondern Ausdruck tiefer emotionaler Bedürfnisse. Die Vernunft argumentiert, aber das Gefühl entscheidet.

    Die Implikationen für den Einsatz von KI in gesellschaftlichen, politischen oder sogar therapeutischen Kontexten sind enorm. Wer etwa glaubt, man könne einen empathischen Seelsorger, einen verständnisvollen Richter oder eine kreative Künstlerin durch Maschinen ersetzen, der verkennt die Dimension des Menschlichen. Auch wenn Chatbots trösten können, sind sie nicht getröstet. Auch wenn sie Gedichte schreiben, sind sie nicht bewegt.

    Es ist Simulation, keine Existenz.

    Philosophen sind sich dieser Grenzen oft bewusst – und doch bleibt ihre Sprache, ihr Zugang zur Welt, eine abgeleitete. Vielleicht ist das der Grund, warum Philosophie immer wieder an die Ränder des Sagbaren stößt – zu Schweigen gezwungen, wo das Leben unübersetzbar wird. Was Adorno die „Nicht-Identität“ nannte, ist nicht nur ein logisches Problem. Es ist eine anthropologische Wahrheit: Der Mensch geht nicht auf im Begriff.

    Nicht identische Nicht-Identität: finde 10 Fehler! (Bild: KI)

    Gerade in einer Zeit, in der Maschinen uns immer besser „verstehen“, sollten wir uns daran erinnern, was das Menschsein jenseits der Sprache ausmacht. Nicht, um den Fortschritt zu verteufeln. Sondern um seine Grenzen zu benennen. Die größte Gefahr der KI liegt nicht darin, dass sie zu mächtig wird. Sondern dass wir anfangen, uns selbst auf das zu reduzieren, was sie erfassen kann.

    Denn was keine Maschine je wird berechnen können, ist der kurze Blick zwischen zwei Menschen, in dem sich ein ganzes Leben verdichtet. Und keine Philosophie wird je ganz erklären, warum dieser Blick uns zu Tränen rührt.

  • Ist die Qualität bald auch nur noch künstlich?

    (English version below)

    Ein Essay von Carsten Prueser

    Die Idee von Qualität war einmal ein Versprechen: auf Verlässlichkeit, Handwerk, Urteilskraft, auf die erfahrbare Überlegenheit einer Sache über das Mittelmaß. In Schulen wurde sie benotet, in Werkstätten geschmiedet, an Universitäten gelehrt und in Redaktionen gepflegt. Heute wirkt sie zunehmend – prekär. Drei Entwicklungen tragen dazu bei: das Primat des Software-Paradigmas in der Digitalisierung, das Denken in agilen Schleifen und MVPs (minimum viable product), sowie die generative Künstliche Intelligenz als neue, scheinbar demokratische Wissensquelle.

    1. Vom Vollendeten zum Prozess

    „Done is better than perfect“ ist das Mantra der agilen Welt. In ihr wird Qualität nicht erreicht, sondern simuliert. Das „Minimum Viable Product“ (MVP) ist kein Ziel, sondern Startsignal. Fertig ist, was gerade überlebt. Was früher als Produkt galt, ist heute eine Hypothese mit Benutzeroberfläche. Innere Stimmigkeit, Durcharbeitung, Reife – alles dem Tempo geopfert. Die Qualität eines Gegenstands ergibt sich nicht mehr aus seiner Substanz, sondern aus seiner Reaktion auf den Markt. Wer klickt, hat recht. Wer iteriert, gewinnt.

    Künstliche Qualität

    Image: ChatGPT 2025, no rights

    2. Die digitale Form kennt kein Gewicht

    Digitalisierung bedeutet Entmaterialisierung. Code kennt keine Gravitation. Das digitale Produkt ist flüchtig, ungreifbar, endlos kopierbar. Seine „Qualität“ misst sich an Ladezeiten, Kompatibilität, KPI. Es gibt keine Patina, kein Widerlager. Im Digitalen verschwindet die Spur des Körpers, die Handschrift, die Arbeit, die Aura. Eine PDF-Dokument —anders als das verlegte, redigierte Buch— kann von einer Schüler:in, einer Professorin oder einem Algorithmus stammen – und wird gleichwertig konsumiert. Die Differenz verschwindet hinter dem Interface.

    3. Die KI als beliebige Autorität

    Mit ChatGPT, Midjourney und anderen Werkzeugen wird das Expertentum entgrenzt. Der Text der KI klingt autoritativ, ohne Autor zu sein. Wissen erscheint allgegenwärtig, aber es fehlt das Urteil. Das Verständnis für Kontexte, Widersprüche, Nuancen. Was bleibt, ist eine Ästhetik der Glaubwürdigkeit: plausibel, glatt, stromlinienförmig. So wird die Illusion von Qualität massenhaft reproduzierbar. Die Frage nach dem besseren Argument weicht der Frage: „Wird es geklickt?“

    4. Mittelmaß als Algorithmus

    Der Markt, der Algorithmus, der Feedback-Loop: Sie alle belohnen das Künstlich-Bewährte. Qualität wird zur Funktion von Aufmerksamkeit, nicht von Exzellenz. Das System ist effizient, aber gleichgültig. Es erkennt Muster, aber keine Ideen. Innovation wird zur Optimierung, Kritik zur Kommentarfunktion. Die Idee eines Werkes, das mehr ist als seine Performance-Metrik, wird randständig.

    5. Der Widerstand der Qualität

    Und doch bleibt sie: die Sehnsucht nach dem Besseren, dem Durchgearbeiteten, dem wahren Unterschied, dem Nicht-Identischen. Vielleicht wird Qualität in der Zukunft kein Standard mehr sein, sondern Dissidenz. Ein Akt der Verweigerung gegen die Verwertungslogik, ein Bekenntnis zur Mühe, zur Tiefe, zur Urteilskraft. Wer heute noch Qualität schafft, tut dies nicht für den Markt, sondern für die Wahrheit eines Anspruchs, für die Menschen, die spüren, wenn etwas gemeint ist.

    In diesem Sinne ist Qualität vielleicht bald nicht mehr natürlich, aber sie bleibt: menschlich.

    (Herzlichen Dank an Harald Monihart für den ursprünglichen, inspirierenden Gedanken beim Mittagessen — gleichzeitig ein verstecktes Votum gegen das Home Office 😉 )

    English Version

    Will quality soon be nothing more than artificial?

    An essay by Carsten Prueser
    (Translated with DeepL.com, *of course*)

    The idea of quality was once a promise: a promise of reliability, craftsmanship, discernment, and the tangible superiority of something above the average. It was graded in schools, forged in workshops, taught at universities, and cultivated in editorial offices. Today, it seems increasingly precarious. Three developments contribute to this: the primacy of the software paradigm in digitalization, thinking in agile loops and MVPs (minimum viable products), and generative artificial intelligence as a new, seemingly democratic source of knowledge.

    1. From completion to process

    “Done is better than perfect” is the mantra of the agile world. In it, quality is not achieved, but simulated. The “minimum viable product” (MVP) is not a goal, but a starting signal. What is finished is what survives. What used to be considered a product is now a hypothesis with a user interface. Inner consistency, thoroughness, maturity – all sacrificed to speed. The quality of an object no longer derives from its substance, but from its reaction to the market. Whoever clicks is right. Whoever iterates wins.

    2. The digital form knows no weight

    Digitization means dematerialization. Code knows no gravity. The digital product is fleeting, intangible, endlessly copyable. Its “quality” is measured by loading times, compatibility, KPIs. There is no patina, no counterweight. In the digital realm, the traces of the body, the handwriting, the work, the aura disappear. A PDF document—unlike a published, edited book—can come from a student, a professor, or an algorithm—and is consumed equally. The difference disappears behind the interface.

    3. AI as an arbitrary authority

    With ChatGPT, Midjourney, and other tools, expertise is becoming borderless. AI text sounds authoritative without having an author. Knowledge appears omnipresent, but judgment is lacking. Understanding of contexts, contradictions, nuances. What remains is an aesthetic of credibility: plausible, smooth, streamlined. Thus, the illusion of quality becomes mass-reproducible. The question of the better argument gives way to the question: “Will it get clicks?”

    4. Mediocrity as algorithm

    The market, the algorithm, the feedback loop: they all reward the artificially proven. Quality becomes a function of attention, not excellence. The system is efficient but indifferent. It recognizes patterns but not ideas. Innovation becomes optimization, criticism becomes a comment function. The idea of a work that is more than its performance metrics becomes marginal.

    5. The resistance of quality

    And yet it remains: the longing for the better, the well-crafted, the true difference, the non-identical. Perhaps in the future, quality will no longer be the standard, but dissidence. An act of refusal against the logic of exploitation, a commitment to effort, to depth, to discernment. Those who still create quality today do so not for the market, but for the truth of a claim, for the people who sense when something is meant.

    In this sense, quality may soon no longer be natural, but it remains: human.

    (Many thanks to Harald Monihart for the original, inspiring thought during lunch — at the same time a hidden vote against the home office 😉 )

  • Kunst nach dem Schöpfungsakt

    Wie künstliche Intelligenz und Kulturindustrie unsere Vorstellung von Kreativität revolutionieren


    Von Carsten Prueser

    Das Werk ist weniger Werk als Wirkung.“ – Walter Benjamin

    1. Ein neues Paradigma

    Die Aussage „Kunst ist in der Rezeption, nicht in der Kreation“ wirkt auf den ersten Blick wie eine Parole aus einem Überbietungswettbewerb der Avantgarden. Doch sie beschreibt nüchtern eine tektonische Verschiebung unserer Gegenwart. Mit der Fotografie begann vor 185 Jahren ein Prozess, der das Machen von Bildern von der Hand in die Apparatur verlagerte. Heute setzen Large Language Models (LLMs) diesen Vorgang im Reich des Gedankens fort: Sie automatisieren das Formulieren von Ideen so radikal, dass die traditionelle Unterscheidung zwischen Schöpfung und Vervielfältigung kollabiert.

    Ist es Kunst? (Foto: BILD)

    2. Vom Genius zum Kurator

    Seit Goethe den „Genie‑Gedanken“ zum poetischen Dogma erhob, galt Originalität als höchste Währung der Kunst. Der Künstler, so das Ideal, schöpft ex nihilo. Nun sehen wir, wie neuronale Netze in Millisekunden Variationen produzieren, die das Kriterium der Neuartigkeit technisch erfüllen, aber ästhetisch entwerten. Der eigentliche Akt der Auswahl – die Entscheidung, welche der Milliarden Möglichkeiten Wahrnehmung verdient – rückt ins Zentrum. Der Künstler verwandelt sich in einen Kurator des Möglichen. Kreativität ist nicht länger Schöpfung, sondern Selektion.

    3. Die neue Knappheit: Aufmerksamkeit

    Gleichzeitig erlebt die Kulturindustrie – ein Begriff, den Adorno und Horkheimer noch gegen das Rundfunkmonopol richteten – eine digitale Hyperinflation. Dort, wo Streams ununterbrochen Content auswerfen, wird nicht das Werk, sondern Aufmerksamkeit zum knappsten Gut. Kunst wird Commodity – austauschbar, endlos. Die paradoxale Folge: Nicht die Produktion ist rar, sondern die Fähigkeit zur Erkenntnis. Wer im allgegenwärtigen Rauschen ein subtiles Motiv, eine verschobene Bedeutungsschicht erkennt, vollbringt die Leistung, die früher dem Atelier vorbehalten war.

    4. Rezeption als schöpferischer Akt

    Die Konsequenz lautet: Rezeption ist die neue Kreation. Sie ist nicht passiv, sondern eine konstruktive Praxis. Im Dialog zwischen Betrachter und Werk entsteht erst das, was wir Bedeutung nennen. Waren es einst die Expressionisten, die „mit dem Auge fühlen“ wollten, so muss der heutige Rezipient „mit dem Algorithmus denken“ lernen. Die ästhetische Bildung verschiebt sich von Technik hin zu Kritikkompetenz – jenem Vermögen, Relevanz zu diagnostizieren und Rauschen von Resonanz zu unterscheiden.

    5. Ethik der Auswahl

    Doch mit der Macht der Auswahl wächst auch Verantwortung. Wenn Künstliche Intelligenz unablässig ästhetische Rohstoffe liefert, droht der Kurator zum bloßen Veredler fremder Arbeit zu werden. Wer filtert, muss Kriterien offenlegen. Eine Ethik der Selektion fordert Transparenz über die Maßstäbe, nach denen Sichtbarkeit verteilt wird – eine Debatte, die Plattformbetreiber bislang den Algorithmen überlassen.

    6. Ausblick

    Vielleicht ist der Tod des Genius weniger ein Verlust als eine Befreiung. Kunst wird Moment, nicht Monument. Sie existiert nicht mehr nur im Museum, sondern überall dort, wo ein wacher Geist Sinn entziffert. Wer heute wirklichsieht, wirklich versteht, erschafft mehr als jene, die pausenlos Inhalte ausspucken.

    Kunst war immer schon ein leises Flüstern gegen den Lärm der Welt. In Zeiten der generativen KIs ist dieses Flüstern lauter denn je – für jene, die hinhören.

  • KI oder das neue Paradigma der Kreativität

    von Martin Schwendtler

    Künstliche Intelligenz rüttelt an der alten Ordnung des Schöpferischen. Seit jeher strecken wir Menschen unsere Reichweite mit Werkzeugen: vom Faustkeil über die Druckerpresse bis zur Kamera. Doch erstmals stellt uns ein Werkzeug nicht nur neue Formen zur Verfügung – es erzeugt eigene Inhalte. Damit erfüllt sich Marshall McLuhans Diktum, dass „the medium is the message“: Form und Inhalt werden untrennbar, weil das Medium – hier die künstliche Intelligenz samt ihrer Plattformen – die Aussage selbst prägt. Dieses Diktum hatte schon immer Gültigkeit, doch heute ist es für alle sichtbar: Das Medium selbst ist die eigentlich treibende Kraft jeder kulturellen Veränderung.

    So verlagert sich der kreative Brennpunkt. Früher stand das mühsame Arbeiten an Entwürfen im Zentrum; heute ist der Moment der Veröffentlichung der eigentliche Schöpferische Akt. Ideen überschreiten die Schwelle zur Manifestation in Sekunden. Redaktion wird Kreation — nicht ohne Grund erfährt der Begriff des Kurators, des Kuratierens einen nie gesehen Aufschwung.

    In dieser Welt gilt beinahe brutal: Nur was öffentlich ist, existiert. Wer nicht erscheint, ist ungeschehen. McLuhans Einsicht verschärft sich: Nicht nur bestimmt das Medium die Botschaft, sondern die algorithmische Distribution bestimmt ihr Existenz. Aus Perception is reality wurde Attention is existence.

    Die entscheidende Frage an künstliche Intelligenz lautet daher nicht mehr, wie sie uns beim Mehr-Produzieren hilft – das Überangebot ist längst da. Sondern: Wie kann sie unsere Wahrnehmung weiten, kuratieren, Resonanzräume öffnen, damit Bedeutendes im Rauschen nicht erstickt? Vielleicht liegt die nächste Evolutionsstufe maschineller Kreativität darin, das Aufmerksamkeitsbudget intelligenter zu verteilen oder zu Erweitern.

    Die Zukunft der Kreativität liegt weniger im Machen als im Sehen. Und vielleicht wird künstliche Intelligenz vom Generator zum Resonator: ein System, das nicht nur neue Welten baut, sondern uns befähigt, sie wahrzunehmen – mitsamt den Medien, die ihre Bedeutung formen.