Schlagwort: Kulturindustrie

  • Zwischen Kölner Bucht und Lower East Side – Patti Smith und BAP in Frankfurt und Hanau.

    Das Alter ist kein bloßes biografisches Detail, sondern ein Resonanzraum. Wer als ergrauter Besucher zwischen die Jüngeren und die Gleichaltrigen tritt, begegnet nicht nur der Musik, sondern auch sich selbst – den verpassten Aufständen, den überstandenen Illusionen, den Restbeständen an Utopie. In diesem Spannungsfeld lagen zwei Abende, die sich kürzlich boten: Patti Smith, die Priesterin des Aufbegehrens, am 18. Oktober 2023 im ausverkauften Zoom in Frankfurt. Und „etwas“ später BAP, Chronisten kölscher Alltagswiderständigkeit, am 15. August 2025 im Amphitheater Hanau, vor gut gefüllten Rängen beim vorletzten Halt ihrer Zeitreise-Tour.

    Patti Smith betritt die Bühne des Zoom in Frankfurt, und plötzlich ist der Raum kein Club mehr, sondern ein Ort der Möglichkeit. Man spürt, dass hier etwas geschieht, das nicht völlig planbar ist. Ihre Stimme bricht und erhebt sich zugleich, ihre Gesten sind ungelenk und heilig, ihre Worte – mal rezitiert, mal geschrien – erinnern daran, dass Kunst mehr sein kann als Unterhaltung. Smith verkörpert den Ernst einer Generation, die gelernt hat, dass Schönheit im Bruch liegt. Ihre Lieder sind Fragmente eines offenen Prozesses: nichts Abgeschlossenes, nichts Fertiges. Hier wird nicht Nostalgie verwaltet, sondern Gegenwart erkämpft. Auffällig: Neben den lebensbegleitenden Fans ziehen ihre Konzerte auch jede Menge junge Leute an, die überraschend selbstverständlich Zugang zu ihrer Kunst finden.

    Von der Princess of Punk zur Grande Dame der Rockmusik:
    Patty Smith im Frankfurter Zoom. Foto: Anton Vester

    Bei Wolfgang Niedecken und BAP, ein ganze Zeit später im Amphitheater Hanau, herrscht ein anderer Ton. Es ist Sommerabend, die Luft riecht nach Bier und Bratwurst, und die Bühne gleicht einem gut eingespielten Ritual. Niedecken spricht, singt, erzählt, wie er es seit Jahrzehnten tut. Die Fans nicken, mitsingen ist Pflicht, der kollektive Schulterschluss programmiert. Man könnte sagen: alles in Ordnung. Aber eben auch: alles schon gehört. Rebellion ist hier zur Folklore erstarrt, Sozialkritik zum Soundtrack der Stammtische mit Wohlgefühlgarantie. Hinterher werdet Ihr Euch vierzig Jahre jünger fühlen, verspricht der Entertainer.

    Tatsächlich: Im Publikum finden sich fast ausschließlich Zuhörerinnen und Zuhörer 50+, für die BAP längst zur eigenen Biografie gehört. Und doch ist dieses Publikum gezeichnet von den Deformierungen durch ein Leben mit Entfremdung, Herrschaft und Verdinglichung.

    Erst nach reichlichem Bierkonsum und wenn die Musik gegen Ende die Emotionen durch Tempo und Greatest-Hit-Eigenschaft befeuert, tritt bei einigen ein schwaches Leuchten in die müden Augen, ein vorsichtiges Erinnern, dass man ein anderes Leben wollte. Für sich und für Carmen, Alexandra, den Jupp und auch für den Müsliman. In der Südstadt, auf der Insel und in der ganzen Welt. Aber es ist irgendwie anders gekommen. Nicht nur am 10. Juni, sondern das ganze Leben.

    Die kritische Theorie spricht von „Verwaltung“: sobald das Widerspenstige sich in Routinen verwandelt, verliert es seinen Stachel. Was bei Patti Smith noch wie ein unberechenbarer Aufbruch wirkt, erscheint bei BAP als kulturelle Betriebsamkeit, die niemandem mehr wehtut. Niedecken singt über Ungerechtigkeit, aber stets so, dass das Publikum zustimmen kann, ohne sich selbst zu hinterfragen. Dabei bleibt er die Antwort schuldig, was denn nun richtig sei:

    »Bliev do, wo de bess / halt dich irjendwo fess / un bliev su, wie de woors / jraad’uss« (Jrad’uss) oder die rezitierte Sentenz »Nur wer sich ändert, bleibt sich selbst treu« (Wolf Biermann). Smith dagegen fordert – mit brüchiger Stimme, mit literarischer Härte – dass man sich einmischt, auch wenn es unbequem ist.

    „The people have the power / to wrestle the world from fools.“

    Wolfgang Niedecken auf einem Boot in der Kölner Bucht vor der Deutzer Brücke
    Wolfgang Niedecken in der Kölner Bucht vor Deutzer Brücke (2020)
    Foto: Tina Niedecken

    Die Dialektik dieses Konzertdoppels: Musik kann zugleich Betäubung und Aufweckruf sein. In Hanau wird das Kollektiv in Sicherheit gewogen, im Zoom in Frankfurt wird es auf See hinausgeschickt. Die eine Bühne produziert Zugehörigkeit, die andere Unsicherheit. Beides ist menschlich, doch nur eines bewahrt die Kunst davor, zur bloßen Ware zu werden. Und es passt genau, dass Niedecken Ware, aka „Merch“, reichlich dabei hat. Sein gesprochener Werbeblock für das Fanzine zur Tournee irritierte nur kurz, war ja nur eine „Verbraucherinformation“.

    So bleibt der Eindruck: BAP, das ist die Kölner Bucht – vertraut, berechenbar, ein Heimathafen. Patti Smith, das ist die Lower East Side oder heute eher Red Hook – rau, widersprüchlich, ein Ort, an dem man sich verliert, um sich vielleicht neu zu finden. Die Frage ist, was man sucht: das Bekannte oder die Wahrheit.

    Wer letzteres wollte, kam an diesem Abend im Zoom in Frankfurt näher an die Wahrheit – und zugleich näher an sich selbst.

  • Populismus im Abo: Wie der Focus mit Fleischhauer-Texten Kasse macht

    Es wirkt wie politische Debatte, ist aber industriell hergestellte Erregung. Jan Fleischhauers Kolumne auf Focus Online

    über das Bürgergeld ist ein Beispiel dafür, wie publizistische Formate nach den Gesetzen der Warenproduktion funktionieren: Der Text wird nicht geschrieben, um eine gemeinsame Wahrheit zu erarbeiten, sondern um ein Bedürfnis zu stimulieren, das das Medium selbst erzeugt – und daraus Ertrag zu schlagen.

    Schon Adorno und Horkheimer beschrieben in der Dialektik der Aufklärung, dass in der Massenkultur jedes Werk so „zugeschnitten“ wird, dass es reibungslos konsumierbar bleibt. „Was nicht in die Standardisierung passt, wird von der Industrie aussortiert. Das Zufällige, das Störende, das Ungefügige ist der Kalkulation entzogen.“
    Der Effekt ist planbar: Alles, was echten Austausch anregen könnte – Mehrdeutigkeit, Bruch, Offenheit – wird entfernt. Übrig bleibt ein Produkt, das sich mühelos teilen, empören und monetarisieren lässt.

    Der dramaturgische Baukasten

    Fleischhauers Text folgt einer klaren Sequenz:

    1. Der Aufreger – eine scharfe Zahl mit moralischem Unterton: „Jeder zweite Bürgergeldempfänger besitzt keinen deutschen Pass.“

    2. Die Szene – eine Miniatur wie auf einer Bühne: Ein Mann, eine Frau im Hijab, der Bewerbungsbutton der Bundesagentur. Das ist keine neutrale Beschreibung, sondern das gezielte Setzen von Symbolen, die im kollektiven Gedächtnis bestimmte Assoziationen auslösen.

    3. Die Eskalation – Zahlen zu Kostensteigerungen, pointiert und isoliert präsentiert, bis ein Gefühl der Bedrohung entsteht.

    4. Das Feindbild – Regierung, Verwaltung, SPD, „Bürgergeld-Advokaten“ klar umrissen als Gegenseite.

    5. Der Untergangsverweis – historische Analogien, implizite Warnungen vor dem Zerfall staatlicher Ordnung.

    Diese Struktur ist nicht der Erzählfluss einer offenen Debatte, sondern das „immer Gleiche“: eine wiederholbare, formalisierte Abfolge, die einen verlässlichen Affekt erzeugt – Empörung.

    Vom Diskurs zum Produkt

    Ein herrschaftsfreier Dialog, so wie Habermas ihn beschreibt, setzt Gegenseitigkeit voraus: Jeder muss seine Position begründen, Gegenargumente haben Platz. Fleischhauers Text bietet das Gegenteil: selektive Auswahl von Fakten, Ausschluss abweichender Perspektiven, Personalisierung komplexer Prozesse. Der Leser wird nicht eingeladen, mitzudenken, sondern eingenordet.

    Der Zweck liegt im Geschäftsmodell von Focus Online und Burda: Klicks sind Währung, Empörung ist Rohstoff. Der Text ist ein Content-Baustein in einer Aufmerksamkeitsökonomie, die nach denselben Prinzipien funktioniert wie jede industrielle Massenproduktion: Wiederholung, Standardisierung, maximale Anschlussfähigkeit für den nächsten Erregungszyklus.

    Die Kommerzialisierung des Konflikts

    Was hier verkauft wird, ist nicht Erkenntnis, sondern Haltung. Der Leser soll sich bestätigt fühlen – oder empören. Beides steigert die Verweildauer, triggert das Teilen in sozialen Netzwerken und damit den Anzeigenwert.
    • Affektmobilisierung: Wut bindet stärker als Nüchternheit.
    • Identitätsangebot: „Wir, die sehen, was wirklich los ist“ – ein Wir-Gefühl gegen „die da oben“.
    • Reproduzierbarkeit: Das Feindbild-Set – Ausländer, Kosten, Politikversagen – kann endlos variiert werden.

    Herbert Marcuse hat diesen Mechanismus einmal als „Entpolitisierung durch Konsumierbarkeit“ beschrieben: Konflikte werden auf einfache kulturelle Gegensätze reduziert. So werden sie konsumierbar – und gerade dadurch unschädlich für die Machtstrukturen, die sie zu hinterfragen vorgeben.

    Demokratie als Kulisse

    Die Demokratie erscheint in dieser Inszenierung nur als Hintergrundrequisite: Sie liefert Themen und Skandale, nicht Ziele oder Lösungswege. Der Text kanalisiert Unzufriedenheit in eine ritualisierte Empörung, die in der nächsten Woche durch eine neue ersetzt wird. Die Energie, die in politisches Handeln fließen könnte, wird im Klick-Kreislauf verbrannt.

    Das ist kein Unfall, sondern System: Wer den Mechanismus durchbricht, gefährdet das Geschäftsmodell. Deshalb ist die Wiederholung so treu, die Form so vorhersehbar, der Feind so zuverlässig.

    Politik wird zur Serie – und der Leser zum Abonnenten eines Dauererregungsangebots, das mit öffentlicher Aufklärung ungefähr so viel zu tun hat wie ein Werbeprospekt mit kritischem Journalismus.

  • Kunst nach dem Schöpfungsakt

    Wie künstliche Intelligenz und Kulturindustrie unsere Vorstellung von Kreativität revolutionieren


    Von Carsten Prueser

    Das Werk ist weniger Werk als Wirkung.“ – Walter Benjamin

    1. Ein neues Paradigma

    Die Aussage „Kunst ist in der Rezeption, nicht in der Kreation“ wirkt auf den ersten Blick wie eine Parole aus einem Überbietungswettbewerb der Avantgarden. Doch sie beschreibt nüchtern eine tektonische Verschiebung unserer Gegenwart. Mit der Fotografie begann vor 185 Jahren ein Prozess, der das Machen von Bildern von der Hand in die Apparatur verlagerte. Heute setzen Large Language Models (LLMs) diesen Vorgang im Reich des Gedankens fort: Sie automatisieren das Formulieren von Ideen so radikal, dass die traditionelle Unterscheidung zwischen Schöpfung und Vervielfältigung kollabiert.

    Ist es Kunst? (Foto: BILD)

    2. Vom Genius zum Kurator

    Seit Goethe den „Genie‑Gedanken“ zum poetischen Dogma erhob, galt Originalität als höchste Währung der Kunst. Der Künstler, so das Ideal, schöpft ex nihilo. Nun sehen wir, wie neuronale Netze in Millisekunden Variationen produzieren, die das Kriterium der Neuartigkeit technisch erfüllen, aber ästhetisch entwerten. Der eigentliche Akt der Auswahl – die Entscheidung, welche der Milliarden Möglichkeiten Wahrnehmung verdient – rückt ins Zentrum. Der Künstler verwandelt sich in einen Kurator des Möglichen. Kreativität ist nicht länger Schöpfung, sondern Selektion.

    3. Die neue Knappheit: Aufmerksamkeit

    Gleichzeitig erlebt die Kulturindustrie – ein Begriff, den Adorno und Horkheimer noch gegen das Rundfunkmonopol richteten – eine digitale Hyperinflation. Dort, wo Streams ununterbrochen Content auswerfen, wird nicht das Werk, sondern Aufmerksamkeit zum knappsten Gut. Kunst wird Commodity – austauschbar, endlos. Die paradoxale Folge: Nicht die Produktion ist rar, sondern die Fähigkeit zur Erkenntnis. Wer im allgegenwärtigen Rauschen ein subtiles Motiv, eine verschobene Bedeutungsschicht erkennt, vollbringt die Leistung, die früher dem Atelier vorbehalten war.

    4. Rezeption als schöpferischer Akt

    Die Konsequenz lautet: Rezeption ist die neue Kreation. Sie ist nicht passiv, sondern eine konstruktive Praxis. Im Dialog zwischen Betrachter und Werk entsteht erst das, was wir Bedeutung nennen. Waren es einst die Expressionisten, die „mit dem Auge fühlen“ wollten, so muss der heutige Rezipient „mit dem Algorithmus denken“ lernen. Die ästhetische Bildung verschiebt sich von Technik hin zu Kritikkompetenz – jenem Vermögen, Relevanz zu diagnostizieren und Rauschen von Resonanz zu unterscheiden.

    5. Ethik der Auswahl

    Doch mit der Macht der Auswahl wächst auch Verantwortung. Wenn Künstliche Intelligenz unablässig ästhetische Rohstoffe liefert, droht der Kurator zum bloßen Veredler fremder Arbeit zu werden. Wer filtert, muss Kriterien offenlegen. Eine Ethik der Selektion fordert Transparenz über die Maßstäbe, nach denen Sichtbarkeit verteilt wird – eine Debatte, die Plattformbetreiber bislang den Algorithmen überlassen.

    6. Ausblick

    Vielleicht ist der Tod des Genius weniger ein Verlust als eine Befreiung. Kunst wird Moment, nicht Monument. Sie existiert nicht mehr nur im Museum, sondern überall dort, wo ein wacher Geist Sinn entziffert. Wer heute wirklichsieht, wirklich versteht, erschafft mehr als jene, die pausenlos Inhalte ausspucken.

    Kunst war immer schon ein leises Flüstern gegen den Lärm der Welt. In Zeiten der generativen KIs ist dieses Flüstern lauter denn je – für jene, die hinhören.