Schlagwort: Medien

  • Stadt Frankfurt attackiert die Pressefreiheit

    Ein Bericht in eigener Sache

    Journalistischer Alltag heißt: recherchieren. Ein wesentlicher Teil davon sind Presseanfragen an Behörden. Das ist kein Gnadenrecht, sondern gesetzlich verbrieft – in Hessen durch § 3 des Hessischen Pressegesetzes und auch verfassungsunmittelbar aus Art. 5 Grundgesetz.

    Selbst für ein junges Medium wie die Frankfurter Nachrichten funktioniert das meist erstaunlich gut: kurze Fristen, schnelle Antworten, wie es sich gehört – schließlich will niemand die Nachrichten von gestern lesen. Vorbildlich arbeiten etwa die Pressestellen von Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichten in Frankfurt. Schnell, kompetent, professionell.

    Anders sieht es in der Stadtverwaltung Frankfurt aus. Manche Stellen reagieren rasch, andere nur nach Erinnerung. Mitunter wird verschleppt, verschlampt – oder womöglich gezielt gemauert. Mal liegt Inkompetenz vor, mal offenbar die Absicht, etwas zu verbergen.

    Besonders irritierend: Die großen Platzhirsche im Frankfurter Medienbetrieb hätten die Ressourcen, hier eine bessere Auskunftskultur durchzusetzen. Doch statt Konflikte zu riskieren, poliert mancher wohl lieber das Messing-Namensschild auf der Pressebank der Stadtverordnetenversammlung und versucht, nicht an die sinkenden Auflagen zu denken.

    Wenn aber alles nichts hilft, bleibt als Rechtsbehelf der Eilantrag beim Verwaltungsgericht. Normalerweise wirkt das Wunder: Die angefragte Information kommt, weil die sich weigernde, aber auskunftspflichtige Stelle —oft aufgrund internen Beratung durch Rechtskundige— sich eines Besseren besinnt. Schnell und unkompliziert.

    Nicht so in Frankfurt. Im Zuge unserer Recherchen zur Korruption und Compliance-Verstößen bei der ABG Frankfurt Holding stellten wir eine Presseanfrage an das Dezernat für Bauen und Planen von Stadtrat Marcus Gwechenberger. Pressesprecher Sebastian Tokarz verweigerte unwirsch die Auskunft – nicht zum ersten Mal. Der Eilantrag beim Verwaltungsgericht folgte. Doch statt der erwarteten Antwort erreichte uns ein über 330-seitiger Schriftsatz einer Münchner Großkanzlei. Darin: abwegige oder veraltete Rechtsansichten („Presse ist nur Gedrucktes“), Zitate von Verfassungsgerichtsentscheidungen aus den 60er Jahren, als hätte sich die Pressefreiheit seit der Spiegel-Affäre nicht weiterentwickelt, eine Collage von Verwaltungsvorgängen ohne Bezug zum Verfahren – und vor allem: persönliche Diffamierungen.

    Pressefreiheit in Trümmer?
    Pressefreiheit in Trümmern? Bild: KI

    Als wie ein „pubertierendes 15-jähriges Mädchen auf Facebook“ oder als von „Wahnideen“ und „gekränkter Eitelkeit“ getrieben, wurde der Autor dieser Zeilen bezeichnet. Man fabulierte gar, ein Obsiegen würde die „hoheitliche Aufgabenerfüllung“ erschweren und er betreibe eine „Fehde“ und „Hetze gegen Mitarbeiter“. Ein grotesker Angriff, der das Zurückhaltungsgebot staatlicher Stellen im Verwaltungsprozess verhöhnt.

    Die politische Verantwortung? Dezernentin Stephanie Wüst schweigt dazu. Das Rechtsamt unter Leitung von Gerhard Budde gab wohl den Auftrag, zumindest ist es zuständig. Ebenfalls von Herrn Budde: keine Stellungnahme auf unsere Nachfrage. Mit Steuergeld wird eine Großkanzlei beauftragtum eine lokale Redaktion zu diskreditieren. Selbst unsere Schreiben an Stadtverordnete wurden herangezogen, als wäre die Gewaltenteilung außer Kraft gesetzt.

    Unsere Anfragen bei der Stadt bezüglich der Beauftragung seiner Person hat der Münchener (ausgrechnet!) Rechtsanwalt Wolfgang Patzelt gleich zu einem weiteren Schriftsatz verarbeitet, steht zwar inhaltlich nichts neues drin, aber ein paar teure Stunden kann man dann gleich noch zusätzlich auf auf die Rechnung nehmen. Hier ist der zentrale Vorwurf (fett gedruckt!): Die Presseanfragen an die Stadt seien in Wirklichkeit Kritik, in Form von Fragen. Eine Ungeheuerlichkeit in den Augen des Herrn Patzelt, der dabei in seiner Rage vergisst, dass Kontrolle und Kritik genau die verfassungsmäßige Aufgabe der Presse ist. Und ansonsten sei alles „Hetze“ und „Privatfehde“.

    Grundsatz der Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit der Verwaltung gemäß der Hessischen Gemeindeordnung? Der scheint klar verletzt, schließlich hat das Rechtsamt ca. 80 Mitarbeiter, etwa die Hälfte davon Volljuristen. Ein presserechtliches Standard-Verfahren sollten die eigentlich aus dem Effeff können. Ohne Profitinteresse einer Anwaltskanzlei hätten es vielleicht auch 100 Seiten getan? (Unsere Erwiderung an das Gericht ist sechs Seiten lang.) Und bei so einem Umfang kommen schnell fünfstellige Beträge zusammen. Anwälte nennen sowas im branchenüblichen Anglo-Slang „Fee-Fest“, zu deutsch und ohne alle Alliteration: Gebührenmaximierung ohne Notwendigkeit.

    Das Muster ist klar: eine Einschüchterungskampagne. Doch die Skrupellosigkeit, mit der hier gegen ein freies Presseorgan vorgegangen wird, markiert eine neue Qualität.

    Wie kann eine so massive Verletzung der Pressefreiheit in Frankfurt geschehen? Die Stadt wird (noch) nicht von rechtsextremen Verfassungsfeinden regiert. Es stellen Parteien mit einwandfreiem demokratischen Leumund die Regierung.

    Warum also dieser Griff in die Trickkiste autoritärer Machtsicherung? Wagenburgmentalität? Angst vor Enthüllungen im Bausumpf? Wahlkampfnervosität? Intransparenz-Reflexe, die ausser Kontrolle geraten?

    Wir wissen es nicht. Noch nicht. Aber wir werden es herausfinden.

    Wie wird sich die Verwaltung erst verhalten, wenn die so rasant mehr Wählerstimmen gewinnenden Rechtsextremisten im Magistrat sitzen? Im vorliegenden Fall ist kein Respekt der Verwaltung für Grundrechte, Verhältnismäßigkeit oder Zurückhaltungsgebot der öffentlichen Gewalt erkennbar.

    Aber wir lassen uns nicht einschüchtern. Wir lassen uns unser Grundrecht nicht nehmen – von Leuten, die Demokratie, Beteiligung, Compliance und Digitalisierung predigen, aber offenbar meinen, die bloße Rhetorik genüge. Und trotz aller Machenschaften im Verborgenen (oder vielleicht grade deswegen?) viel zu wenig Probleme unserer Stadt tatsächlich lösen.

    Doch Demokratie ist Alltag, nicht Festrede im Pavillion. Sie beginnt bei Gesetzestreue und Respekt vor Institutionen – auch und grade vor der Presse.

    Beteiligung heißt: Keine teuren Programme mit Versammlungen, zu denen keiner kommt, sondern Kritik hören und ertragen, nicht nur Applaus. Informieren, erklären, diskutieren und zuhören.

    Compliance und Rechtsstaatlichkeit heißt: nicht dicke Kodizes beschließen, sondern Interessenkonflikte tatsächlich offenlegen und Korruptionsrisiken transparent machen. Und geltende Regeln und Gesetze einfach einhalten.

    Wir bleiben dran. Und werden weiter berichten.

  • Wer ist eigentlich Presse?

    Die Pressefreiheit gilt als stolzes Grundrecht, als Herzschlag der Demokratie. Doch was, wenn die Arterie vertrocknet? Wenn die Presse, auf die sich dieses Grundrecht bezieht, schlicht verschwindet? Dann schützt das Grundgesetz eine leere Hülle – eine Freiheit ohne Substanz.

    Das Verschwinden der Stimmen

    Lange war die Ordnung einfach: Die Zeitung am Morgen, das Radio beim Frühstück, die „Tagesschau“ am Abend. Presse, das waren Institutionen – Redaktionen, die Debatten prägten, die als vierte Gewalt mitspielten. Heute bröckelt diese Ordnung. Digitalisierung, verändertes Mediennutzungsverhalten, zerlegte Aufmerksamkeiten. Die Geschäftsmodelle sind kollabiert, Anzeigenmärkte längst zu Google und Meta gezogen. Die alten Abonnenten sterben – biologisch und kulturell.

    Frankfurt ist ein Brennglas dieses Verfalls:

    • Die Frankfurter Rundschau, einst ein stolzes links-liberales Blatt mit nationalem Anspruch, wirkt heute wie ein Schatten ihrer selbst.
    • Die Frankfurter Neue Presse stirbt leise, Abonnenten werden noch einmal „abgemolken“, zentral zugelieferte Inhalte und Kostensparprogramme. Ende der Eigenständigkeit absehbar.
    • Selbst die FAZ, einst übermächtiger Leitstern, versteckt lokale IVW-Zahlen, um den Absturz nicht sichtbar werden zu lassen. Großes Engagement und große Hoffnung auf die digitalen Formate. Funktionieren die lokal? Unklar.

    Zurück bleibt am Ende eine Kulisse. Adorno hätte es die „Verwaltung des Mangels“ genannt: Zeitungen als Markenhüllen, die Inhalte industriell normiert und zusammengelegt, mit dem Anspruch von Vielfalt, aber der Realität der Gleichförmigkeit.

    Die leere Formel der Freiheit

    Doch Pressefreiheit ist kein Zierstück, kein museales Objekt. Sie lebt nur, wenn es ein Gegenüber gibt: Stimmen, die nachfragen, die stören, die Herrschende beunruhigen. Horkheimer und Adorno beschrieben schon in der Dialektik der Aufklärung, wie Kultur zur Ware verkommt: Das Abweichende wird geglättet, das Kritische absorbiert, bis am Ende Produkte stehen, die planbar konsumierbar sind – ob Nachrichten, Serien oder Songs.

    Wenn die Presse ihre kritische Funktion verliert und sich auf den reibungslosen Vollzug der Industrie reduziert, läuft die Pressefreiheit leer.

    Und die einst großen Player, die jetzt leise untergehen, hatten es sich bequem gemacht mit den Mächtigen.

    Neue Formen, neue Blockaden

    Natürlich entstehen neue Formen: Blogs, investigative Projekte, kollektive Plattformen, digitale Magazine, oft prekär, manchmal dilettantisch – aber mit dem Anspruch, das kritische Moment zu bewahren. Die Rechtslage ist völlig klar: Alle diese neuen Formen sind von der Rechtsprechung als Presse anerkannt. Aber die Praxis der öffentlichen Verwaltung, wo es sich im Dunkeln gut munkeln lässt, ist eine andere. Informationsansprüche werden abgeblockt, Zugänge verwehrt, Anträge verschleppt. Auch weil man die neuen Presseformen nicht wie gewohnt einlullen kann, die individuellen Messingschildchen auf der Pressebank im Sitzungssaal stehen symbolisch für ein Welt, in der sich schon lange keiner mehr wehtut. Und das ist ein Problem: Denn eine Freiheit, die nur auf dem Papier gilt, ist keine.

    Öffentlichkeit als Möglichkeit

    Die Frage „Wer ist eigentlich noch Presse?“ ist deshalb mehr als eine semantische. Sie berührt das Zentrum der Demokratie: Gibt es noch Räume, in denen Öffentlichkeit mehr ist als algorithmisch sortierter Content? Oder verlieren wir, mit den Redaktionen, auch die Instanz, die Kritik institutionell verkörperte?

    Adorno hätte gesagt: Die Aufgabe der Presse ist es, „das Nicht-Identische hörbar zu machen“. Das, was sich nicht fügt, nicht glätten lässt. Wenn diese Stimmen verschwinden oder systematisch zum Schweigen gebracht werden, bleibt nur Verwaltung – von Nachrichten, von Menschen, von der Freiheit selbst.

  • Country Music im Wiesengrund

    Ist Johnny Cash der Adorno der Country Music?

    Wenn Johnny Cash in seinem Song „Man in Black“ erklärt, warum er sich in dunkles Tuch hüllt, klingt das zunächst einfach – und doch schwingt in jeder Zeile eine radikale Gesellschaftskritik mit, die erstaunlich nah an die Gedankenwelt der Kritischen Theorie heranreicht. Wo Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in akademischer Sprache das Unrecht des Bestehenden sezierten, formulierte Cash mit rauer Stimme und Gitarre ein Manifest der Empathie, das ebenso politisch wie poetisch ist.

    „I wear the black for the poor and the beaten down“ – das ist keine Pose, sondern ein Bekenntnis. Cash lehnt die affirmative Teilnahme an einer Gesellschaft ab, die systematisch Leid produziert und gleichzeitig Mechanismen bereitstellt, dieses Leid zu verdrängen. Seine Kleidung ist kein modisches Statement, sondern eine ästhetische Intervention. Schwarz als Farbe der Trauer, der Weigerung, des stillen Aufschreis – ein Gegenbild zur bunten Welt des Konsums, zur Show der Sorglosigkeit.

    Album Cover: Johnny Cash "The Man in Black"
    Albumcover: Johnny Cash, „The Man in Black“, 1971.

    In der Welt der Kritischen Theorie gilt: Das Falsche ist nicht nur das Offensichtliche – Armut, Ungleichheit, Gewalt – sondern auch das, was es uns ermöglicht, diese Phänomene als Randerscheinungen zu betrachten. Ideologie, so Adorno, funktioniert nicht nur durch Lügen, sondern durch die Wahrheit in den falschen Zusammenhängen. Der Kapitalismus, sagt er, hat es geschafft, das Leiden in Werbung, Kultur und Sprache zu integrieren – so sehr, dass wir es nicht mehr als Skandal wahrnehmen. Johnny Cash hält mit seiner schwarzen Kleidung dagegen. Er macht sichtbar, was nicht gesehen werden soll.

    Auch in seiner Haltung gegenüber Straffälligen zeigt sich eine bemerkenswerte Nähe zur kritischen Sozialphilosophie. „I wear it for the prisoner who has long paid for his crime / But is there because he’s a victim of the times.“ Das ist keine naive Verharmlosung von Schuld, sondern ein Hinweis auf strukturelle Verantwortung – auf gesellschaftliche Bedingungen, die Kriminalität hervorbringen. Cash erkennt das Individuum nicht als isoliertes Subjekt, sondern als Produkt und Opfer sozialer Verhältnisse – ganz im Sinne einer Theorie, die stets das Ganze im Einzelnen mitdenkt.

    Dabei bleibt Cash weit entfernt von Moralismus oder missionarischem Eifer. Im Gegenteil: Er gesteht sich den Wunsch nach Versöhnung ein. „I’d love to wear a rainbow every day / And tell the world that everything’s okay.“ Aber er tut es nicht. Weil es nicht okay ist. Weil die Freude, wenn sie blind macht für das Leid anderer, zur Lüge wird. Diese Weigerung, sich mit dem Zustand der Welt zu versöhnen, erinnert an Adornos berühmten Satz: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Und doch: In der Weigerung liegt bereits ein Beginn des Richtigen.

    Johnny Cash ist kein Theoretiker. Aber sein Man in Black ist mehr als ein Lied – es ist ein symbolischer Akt, der all das verkörpert, was die Kritische Theorie im Innersten antreibt: das Denken gegen den Strich, das Erinnern an das Leiden, das Verweigern der Versöhnung. So wird die schwarze Kleidung zur kleinen Geste der Utopie – zum Zeichen, dass Widerstand noch möglich ist. Nicht laut, nicht aggressiv, sondern still, entschieden, unbequem. 

    Und doch ist diese beharrliche Schwärze, so unzureichend sie bleibt, ein Akt des Widerstands – ein leises Bekenntnis zum Nichtidentischen und eine Affirmation dessen, dass nichts so sein muss, wie es ist.

  • Kunst nach dem Schöpfungsakt

    Wie künstliche Intelligenz und Kulturindustrie unsere Vorstellung von Kreativität revolutionieren


    Von Carsten Prueser

    Das Werk ist weniger Werk als Wirkung.“ – Walter Benjamin

    1. Ein neues Paradigma

    Die Aussage „Kunst ist in der Rezeption, nicht in der Kreation“ wirkt auf den ersten Blick wie eine Parole aus einem Überbietungswettbewerb der Avantgarden. Doch sie beschreibt nüchtern eine tektonische Verschiebung unserer Gegenwart. Mit der Fotografie begann vor 185 Jahren ein Prozess, der das Machen von Bildern von der Hand in die Apparatur verlagerte. Heute setzen Large Language Models (LLMs) diesen Vorgang im Reich des Gedankens fort: Sie automatisieren das Formulieren von Ideen so radikal, dass die traditionelle Unterscheidung zwischen Schöpfung und Vervielfältigung kollabiert.

    Ist es Kunst? (Foto: BILD)

    2. Vom Genius zum Kurator

    Seit Goethe den „Genie‑Gedanken“ zum poetischen Dogma erhob, galt Originalität als höchste Währung der Kunst. Der Künstler, so das Ideal, schöpft ex nihilo. Nun sehen wir, wie neuronale Netze in Millisekunden Variationen produzieren, die das Kriterium der Neuartigkeit technisch erfüllen, aber ästhetisch entwerten. Der eigentliche Akt der Auswahl – die Entscheidung, welche der Milliarden Möglichkeiten Wahrnehmung verdient – rückt ins Zentrum. Der Künstler verwandelt sich in einen Kurator des Möglichen. Kreativität ist nicht länger Schöpfung, sondern Selektion.

    3. Die neue Knappheit: Aufmerksamkeit

    Gleichzeitig erlebt die Kulturindustrie – ein Begriff, den Adorno und Horkheimer noch gegen das Rundfunkmonopol richteten – eine digitale Hyperinflation. Dort, wo Streams ununterbrochen Content auswerfen, wird nicht das Werk, sondern Aufmerksamkeit zum knappsten Gut. Kunst wird Commodity – austauschbar, endlos. Die paradoxale Folge: Nicht die Produktion ist rar, sondern die Fähigkeit zur Erkenntnis. Wer im allgegenwärtigen Rauschen ein subtiles Motiv, eine verschobene Bedeutungsschicht erkennt, vollbringt die Leistung, die früher dem Atelier vorbehalten war.

    4. Rezeption als schöpferischer Akt

    Die Konsequenz lautet: Rezeption ist die neue Kreation. Sie ist nicht passiv, sondern eine konstruktive Praxis. Im Dialog zwischen Betrachter und Werk entsteht erst das, was wir Bedeutung nennen. Waren es einst die Expressionisten, die „mit dem Auge fühlen“ wollten, so muss der heutige Rezipient „mit dem Algorithmus denken“ lernen. Die ästhetische Bildung verschiebt sich von Technik hin zu Kritikkompetenz – jenem Vermögen, Relevanz zu diagnostizieren und Rauschen von Resonanz zu unterscheiden.

    5. Ethik der Auswahl

    Doch mit der Macht der Auswahl wächst auch Verantwortung. Wenn Künstliche Intelligenz unablässig ästhetische Rohstoffe liefert, droht der Kurator zum bloßen Veredler fremder Arbeit zu werden. Wer filtert, muss Kriterien offenlegen. Eine Ethik der Selektion fordert Transparenz über die Maßstäbe, nach denen Sichtbarkeit verteilt wird – eine Debatte, die Plattformbetreiber bislang den Algorithmen überlassen.

    6. Ausblick

    Vielleicht ist der Tod des Genius weniger ein Verlust als eine Befreiung. Kunst wird Moment, nicht Monument. Sie existiert nicht mehr nur im Museum, sondern überall dort, wo ein wacher Geist Sinn entziffert. Wer heute wirklichsieht, wirklich versteht, erschafft mehr als jene, die pausenlos Inhalte ausspucken.

    Kunst war immer schon ein leises Flüstern gegen den Lärm der Welt. In Zeiten der generativen KIs ist dieses Flüstern lauter denn je – für jene, die hinhören.

  • KI oder das neue Paradigma der Kreativität

    von Martin Schwendtler

    Künstliche Intelligenz rüttelt an der alten Ordnung des Schöpferischen. Seit jeher strecken wir Menschen unsere Reichweite mit Werkzeugen: vom Faustkeil über die Druckerpresse bis zur Kamera. Doch erstmals stellt uns ein Werkzeug nicht nur neue Formen zur Verfügung – es erzeugt eigene Inhalte. Damit erfüllt sich Marshall McLuhans Diktum, dass „the medium is the message“: Form und Inhalt werden untrennbar, weil das Medium – hier die künstliche Intelligenz samt ihrer Plattformen – die Aussage selbst prägt. Dieses Diktum hatte schon immer Gültigkeit, doch heute ist es für alle sichtbar: Das Medium selbst ist die eigentlich treibende Kraft jeder kulturellen Veränderung.

    So verlagert sich der kreative Brennpunkt. Früher stand das mühsame Arbeiten an Entwürfen im Zentrum; heute ist der Moment der Veröffentlichung der eigentliche Schöpferische Akt. Ideen überschreiten die Schwelle zur Manifestation in Sekunden. Redaktion wird Kreation — nicht ohne Grund erfährt der Begriff des Kurators, des Kuratierens einen nie gesehen Aufschwung.

    In dieser Welt gilt beinahe brutal: Nur was öffentlich ist, existiert. Wer nicht erscheint, ist ungeschehen. McLuhans Einsicht verschärft sich: Nicht nur bestimmt das Medium die Botschaft, sondern die algorithmische Distribution bestimmt ihr Existenz. Aus Perception is reality wurde Attention is existence.

    Die entscheidende Frage an künstliche Intelligenz lautet daher nicht mehr, wie sie uns beim Mehr-Produzieren hilft – das Überangebot ist längst da. Sondern: Wie kann sie unsere Wahrnehmung weiten, kuratieren, Resonanzräume öffnen, damit Bedeutendes im Rauschen nicht erstickt? Vielleicht liegt die nächste Evolutionsstufe maschineller Kreativität darin, das Aufmerksamkeitsbudget intelligenter zu verteilen oder zu Erweitern.

    Die Zukunft der Kreativität liegt weniger im Machen als im Sehen. Und vielleicht wird künstliche Intelligenz vom Generator zum Resonator: ein System, das nicht nur neue Welten baut, sondern uns befähigt, sie wahrzunehmen – mitsamt den Medien, die ihre Bedeutung formen.