Kommentar
Von Carsten Prüser
Es wirkt fast schon wie ein schlechter Scherz der Geschichte: Während sich die Marketing‑Abteilungen globaler Konzerne in den Farben des Regenbogens verkleiden und Universitäten Seminare mit Titeln wie „Dekolonisiere dein Denken“ stapeln, rattert dieselbe Gewinnmaschine ungebremst weiter – lauter, glänzender, gieriger denn je. Critical Race Theory, Queer Theory, Postcolonial Studies und die ganze Squad ihrer dekolonialen Ableger geben sich radikal, doch am Ende liefern sie dem Kapitalismus genau das Schmieröl, das er für seinen nächsten Turbogang braucht: neue Märkte, neue Zielgruppen, neue Moralklebstoffe, mit denen sich jeder Widerspruch flicken lässt.

Sehen wir uns die Praxis an: Tech‑Giganten preisen „algorithmic fairness“, während sie weiterhin die globale Südhalbkugel als Rohstoff‑ und Datenmine ausbeuten. Modekonzerne erklären „Empowerment“ zum Hashtag, lassen aber ihre Kollektionen weiterhin in asiatischen Nähfabriken zusammennähen – nur dass das Logo auf dem T‑Shirt jetzt Swahili‑Slang oder eine Regenbogenflagge trägt. Und Universitätsstädte wie Frankfurt drehen sich im intellektuellen Karussell aus „white privilege checks“, „queer‑of‑color critique“ und „safe spaces“, während vor der Mensa die migrantischen Liefer‑Rider mit kaputten Knien in Fahrradkuriere zweiter Klasse verwandelt werden.
Der Trick ist genial: Ob sich Postcolonial Studies, Queer Theory, LatCrit oder die neuesten Settler‑Colonial Studies aufs Etikett schreiben – statt den Kapitalismus infrage zu stellen, werden Begriffe wie „Rasse“, „Geschlecht“ oder „Kolonie“ aus der Mottenkiste geholt und mit Identitätspolitik aufgeladen. So verlagert sich der Konflikt von der Produktions‑ in die Diskursebene. Wer jetzt gegen Ausbeutung protestiert, muss sich zuerst durch eine Stolperstrecke sprachlicher Tabus kämpfen und die korrekte Grammatik der Betroffenheit beherrschen. Das Ergebnis? Streiks und Mietenkämpfe verschwinden aus den Schlagzeilen, während Talkshows minutenlang um Pronomen und Triggerwarnungen kreisen. Nebenschauplätze werden Hauptbühnen – und das Publikum klatscht brav.
Genau davon profitiert eine kleine, privilegierte Kaste von Akademiker:innen, die sich in der Glanzwelt dieser Diskurse gutbezahlte Komfortposten zurechtgezimmert hat. Stiftungsprofessuren, Diversity‑Stabsstellen, beratende „Awareness‑Consultancies“ – die Panel‑Honorare fließen, die Drittmittel sprudeln. Statt ihre intellektuelle Feuerkraft in den Dienst des Ganzen zu stellen, kuratieren sie elitäre Sprach‑ und Zertifikatscliquen, die die Zugangsbarrieren für die Mehrheit nur weiter erhöhen.
Noch perfider ist der Nebeneffekt: Wenn sich ein Konzern die Diversitäts‑ oder Pride‑Medaille ans Revers heftet, darf er im Gegenzug nahezu alles andere weiterbetreiben wie gewohnt. Sklavenähnliche Arbeitsbedingungen in Kobaltminen? Halb so wild, solange der HR‑Newsletter das neueste „Inclusivity Pledge“ feiert. Sanierungsstau in den Arbeitervierteln? Wird übertüncht mit Community‑Murals in politisch korrekten Pastelltönen. Die Botschaft lautet: Wir sehen euch, wir hören euch – aber bitte stört den Umsatz nicht.
Ja, an einzelnen Stellen entstehen Inseln des Fortschritts: bessere Sichtbarkeit, Stipendien, Token‑Führungspositionen. Doch die Rechnung geht nur auf, wenn man die Mehrheitsklasse der prekär Arbeitenden übersieht. Deren Löhne stagnieren, deren Wohnen wird unbezahlbar, deren Lebenszeit verschwindet im Schichtplan. Für sie ist das neue Diversitäts‑Vokabular so hilfreich wie ein Hochglanzprospekt in einem brennenden Haus.
Fassen wir zusammen: Critical Race Theory, Queer Theory und ihre dekolonialen Geschwister mögen sich revolutionär gebärden, doch sie enden häufig als Feenstaub auf der Visage eben jener Ordnung, die sie angeblich demontieren. Wer ernsthaft Emanzipation will, muss zum Kern zurückkehren: Eigentum, Produktion, Verteilung – altmodische Wörter, ja. Aber ohne sie bleibt jeder Befreiungsdiskurs bloß ein weiterer Lottoschein im Casino des Kapitals.
Vielleicht wird es Zeit, den Glamour des Diskurses abzustreifen und wieder über nackte Machtverhältnisse zu sprechen. Das wäre zwar weniger instagramfähig – aber endlich wirklich provokant.