Kategorie: Kritik

  • Wer mehr Arbeit will, soll mehr zahlen.

    Wie sich Marktwirtschaftsfreunde auf LinkedIn in autoritären Moralismus flüchten – und dabei die Grundlagen der Ökonomie verraten.

    In den Beiträgen der Nutzer von LinkedIn blüht derzeit eine merkwürdige Allianz. Unternehmer, Berater, Thinktank-Köpfe und selbsternannte Realisten fordern in pathetischem Ton: Deutschland müsse wieder mehr arbeiten. Die Teilzeitkultur sei eine Sackgasse, ein Wohlstandsverzicht, gar eine Bedrohung des Standortes. Unterlegt wird das mit moralischen Appellen, die man sonst eher aus dem grünen Lager kennt: Pflicht, Gemeinwohl, Verantwortung. Nur dass hier nicht für Klimaschutz oder Migration argumentiert wird – sondern für mehr Lohnarbeit.

    Durchschnittliche Wochenarbeitsstunden Vollzeit-Beschäftigter in Europa. Quelle: Eurostat https://ec.europa.eu/eurostat/databrowser/view/LFSA_EWHAN2__

    Das wäre nicht weiter bemerkenswert, würde es nicht ausgerechnet von jenen kommen, die sonst Freiheit gegen Sozialismus setzen, den Markt gegen den Staat, das Individuum gegen die Zumutung der Gemeinschaft. Freiheit wird dort gern wie eine Monstranz vor sich hergetragen – bis es um die Freiheit der anderen geht. Dann soll der Einzelne plötzlich wieder „leisten“, „malochen“, sich „einbringen“, „den Karren ziehen“. Und zwar bitteschön ohne Klage. Diese Kehrtwende verrät mehr über die Nervosität der Besitzenden als über das Arbeitsverhalten der anderen.

    Wer Marktwirtschaft ernst nimmt, sollte zunächst ihre Spielregeln verstehen. Die Ökonomie lehrt: Wo das Angebot knapp und die Nachfrage groß ist, steigt der Preis. Wenn also immer weniger Menschen bereit sind, 40 Stunden zu arbeiten, liegt es nahe, dass der Preis für die Stunde steigen muss – nicht, dass das Angebot per Moral erhöht werden kann. Will man mehr Arbeit, muss man mehr bieten: Geld, Sinn, Respekt, Führung, Sicherheit. Oder, wie es die Volkswirtschaftslehre nüchtern nennt: Anreize.

    Gerade die Theorie vom abnehmenden Grenznutzen ist hier aufschlussreich. Der Arbeitnehmer verkauft seine (Frei-)Zeit – und zwar zuerst jene Stunden, deren Verzicht am wenigsten schmerzt. Je mehr Zeit jedoch geopfert wird, desto höher wird der individuelle Wert der verbleibenden Freizeit. Denn Freizeit ist nicht nur leere Zeit, sondern Lebenszeit – und ihr subjektiver Wert steigt mit ihrer Knappheit. Diese Dynamik muss sich auch in der Preisfindung widerspiegeln. Trotzdem wird jede Stunde Arbeit von den Arbeitgebern gleich entlohnt. Das widerspricht der Logik des Marktes. Zeit hat nicht nur einen Arbeitswert, sondern eben auch einen Freizeitwert – und der nimmt mit jeder weiteren individuellen Arbeitsstunde zu. Wer wirklich mehr Arbeitsstunden will, muss auch deren Preis entsprechend staffeln. Überstundenzuschläge wären daher kein Gnadenakt, sondern Ausdruck ökonomischer Vernunft. Eine progressive Bezahlung ab der 21. Wochenstunde – etwa in 4-Stunden-Stufen steigend – würde diesem realen Zeitwert besser entsprechen.

    Source: Proprietary research; Statistisches Bundesamt

    Dass diese Debatte nicht ökonomisch, sondern moralisch geführt wird, zeigt ein anderes Problem. Viele der LinkedIn-Moralisten haben nicht mehr Vertrauen in die Anziehungskraft ihres eigenen Systems. Sie glauben nicht mehr daran, dass gute Arbeit für sich spricht – sondern rufen nach Tugend, Pflicht und Vaterland. Das ist entlarvend. Und gefährlich.

    Denn die Idee von Freiheit, Selbstbestimmung, marktwirtschaftlichem Austausch funktioniert nur, wenn sie auch für die gilt, die ihre Zeit verkaufen. Wer mi Teilzeitarbeitszeit lebt, hat sich oft bewusst entschieden – gegen toxische Führung, gegen fremdbestimmte Kalender, gegen Organisationen, die Bullshit produzieren. Dass das nicht gefällt, ist verständlich. Aber Freiheit ist kein Wunschkonzert.

    Vielleicht ist es ja ganz einfach: Wenn Arbeit wieder ein Ort der Entfaltung wäre – statt Erschöpfung –, wenn Führung bedeutet, Räume zu öffnen – statt Druck zu machen –, wenn Leistung fair und gerecht entlohnt wird – und nicht durch moralische Erpressung, wenn die Unternehmen dem gesellschaftlichen Fortschritt dienen würden und nicht dem Profit des Kapitals: Dann käme die Lust auf Arbeit ganz von selbst zurück.

    Aber dann müsste man sich selbst verändern. Und nicht nur die anderen.

  • Jenseits des Begriffs—Warum KI das Menschsein nie ganz erfassen wird

    Philosophie ist auf den Begriff begrenzt. Ihre Ausdrucksform ist der Text, ihre Heimat das Argument, ihre Kraft liegt im Denken. Seit Platon zähmen wir die Welt in Begriffe, formen aus dem Chaos der Erscheinung eine Ordnung der Ideen. Doch das Leben selbst gehorcht anderen Gesetzen. Es ist nicht logisch, sondern affektiv. Nicht der Logos regiert das Dasein, sondern das Begehren, die Angst, die Hoffnung. Emotion schlägt Konzept. Gefühl durchkreuzt Theorie.

    Und so ist die Philosophie – in all ihrer Schönheit und Strenge – eine Disziplin der Distanz. Sie ist, wie Derrida schrieb, ein Spiel mit Differenz, ein endloses Verschieben von Bedeutung im Gewebe des Textes. Aber wer je geliebt hat, getrauert, gefürchtet oder sich schuldig gefühlt, der weiß: Diese Erfahrung lässt sich nicht einholen durch Sprache. Kein Begriff fasst den Kloß im Hals. Kein Text transzendiert den Moment des Erzitterns.

    Gerade hier, in dieser Kluft zwischen Begriff und Gefühl, zeigt sich auch die Grenze künstlicher Intelligenz. KI – wie die Philosophie – operiert über Symbole. Sie rechnet, sie erkennt Muster, sie analysiert Sprache. Doch was sie nicht kennt, ist Leiden. Nicht weil sie sie nicht „erleben“ kann – das ist eine banale Feststellung –, sondern weil sie die Struktur des Emotionalen nicht hat: den Körper, das Begehren, die Verletzlichkeit. Eine KI kennt keine Ergriffenheit, keine Scham, keine Liebe. Alles, was sie über Emotion weiß, sind Parameter, synthetische Schätzungen, Textbausteine.

    Dabei ist der Mensch ein emotionales Wesen, lange bevor er ein denkendes ist. Schon die ersten Bindungen – Mutter, Hunger, Schmerz – sind nicht kognitiv, sondern leiblich. Selbst unsere komplexesten Begriffe – Gerechtigkeit, Freiheit, Wahrheit – sind nicht nur Resultate rationaler Reflexion, sondern Ausdruck tiefer emotionaler Bedürfnisse. Die Vernunft argumentiert, aber das Gefühl entscheidet.

    Die Implikationen für den Einsatz von KI in gesellschaftlichen, politischen oder sogar therapeutischen Kontexten sind enorm. Wer etwa glaubt, man könne einen empathischen Seelsorger, einen verständnisvollen Richter oder eine kreative Künstlerin durch Maschinen ersetzen, der verkennt die Dimension des Menschlichen. Auch wenn Chatbots trösten können, sind sie nicht getröstet. Auch wenn sie Gedichte schreiben, sind sie nicht bewegt.

    Es ist Simulation, keine Existenz.

    Philosophen sind sich dieser Grenzen oft bewusst – und doch bleibt ihre Sprache, ihr Zugang zur Welt, eine abgeleitete. Vielleicht ist das der Grund, warum Philosophie immer wieder an die Ränder des Sagbaren stößt – zu Schweigen gezwungen, wo das Leben unübersetzbar wird. Was Adorno die „Nicht-Identität“ nannte, ist nicht nur ein logisches Problem. Es ist eine anthropologische Wahrheit: Der Mensch geht nicht auf im Begriff.

    Nicht identische Nicht-Identität: finde 10 Fehler! (Bild: KI)

    Gerade in einer Zeit, in der Maschinen uns immer besser „verstehen“, sollten wir uns daran erinnern, was das Menschsein jenseits der Sprache ausmacht. Nicht, um den Fortschritt zu verteufeln. Sondern um seine Grenzen zu benennen. Die größte Gefahr der KI liegt nicht darin, dass sie zu mächtig wird. Sondern dass wir anfangen, uns selbst auf das zu reduzieren, was sie erfassen kann.

    Denn was keine Maschine je wird berechnen können, ist der kurze Blick zwischen zwei Menschen, in dem sich ein ganzes Leben verdichtet. Und keine Philosophie wird je ganz erklären, warum dieser Blick uns zu Tränen rührt.

  • Country Music im Wiesengrund

    Ist Johnny Cash der Adorno der Country Music?

    Wenn Johnny Cash in seinem Song „Man in Black“ erklärt, warum er sich in dunkles Tuch hüllt, klingt das zunächst einfach – und doch schwingt in jeder Zeile eine radikale Gesellschaftskritik mit, die erstaunlich nah an die Gedankenwelt der Kritischen Theorie heranreicht. Wo Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in akademischer Sprache das Unrecht des Bestehenden sezierten, formulierte Cash mit rauer Stimme und Gitarre ein Manifest der Empathie, das ebenso politisch wie poetisch ist.

    „I wear the black for the poor and the beaten down“ – das ist keine Pose, sondern ein Bekenntnis. Cash lehnt die affirmative Teilnahme an einer Gesellschaft ab, die systematisch Leid produziert und gleichzeitig Mechanismen bereitstellt, dieses Leid zu verdrängen. Seine Kleidung ist kein modisches Statement, sondern eine ästhetische Intervention. Schwarz als Farbe der Trauer, der Weigerung, des stillen Aufschreis – ein Gegenbild zur bunten Welt des Konsums, zur Show der Sorglosigkeit.

    Album Cover: Johnny Cash "The Man in Black"
    Albumcover: Johnny Cash, „The Man in Black“, 1971.

    In der Welt der Kritischen Theorie gilt: Das Falsche ist nicht nur das Offensichtliche – Armut, Ungleichheit, Gewalt – sondern auch das, was es uns ermöglicht, diese Phänomene als Randerscheinungen zu betrachten. Ideologie, so Adorno, funktioniert nicht nur durch Lügen, sondern durch die Wahrheit in den falschen Zusammenhängen. Der Kapitalismus, sagt er, hat es geschafft, das Leiden in Werbung, Kultur und Sprache zu integrieren – so sehr, dass wir es nicht mehr als Skandal wahrnehmen. Johnny Cash hält mit seiner schwarzen Kleidung dagegen. Er macht sichtbar, was nicht gesehen werden soll.

    Auch in seiner Haltung gegenüber Straffälligen zeigt sich eine bemerkenswerte Nähe zur kritischen Sozialphilosophie. „I wear it for the prisoner who has long paid for his crime / But is there because he’s a victim of the times.“ Das ist keine naive Verharmlosung von Schuld, sondern ein Hinweis auf strukturelle Verantwortung – auf gesellschaftliche Bedingungen, die Kriminalität hervorbringen. Cash erkennt das Individuum nicht als isoliertes Subjekt, sondern als Produkt und Opfer sozialer Verhältnisse – ganz im Sinne einer Theorie, die stets das Ganze im Einzelnen mitdenkt.

    Dabei bleibt Cash weit entfernt von Moralismus oder missionarischem Eifer. Im Gegenteil: Er gesteht sich den Wunsch nach Versöhnung ein. „I’d love to wear a rainbow every day / And tell the world that everything’s okay.“ Aber er tut es nicht. Weil es nicht okay ist. Weil die Freude, wenn sie blind macht für das Leid anderer, zur Lüge wird. Diese Weigerung, sich mit dem Zustand der Welt zu versöhnen, erinnert an Adornos berühmten Satz: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Und doch: In der Weigerung liegt bereits ein Beginn des Richtigen.

    Johnny Cash ist kein Theoretiker. Aber sein Man in Black ist mehr als ein Lied – es ist ein symbolischer Akt, der all das verkörpert, was die Kritische Theorie im Innersten antreibt: das Denken gegen den Strich, das Erinnern an das Leiden, das Verweigern der Versöhnung. So wird die schwarze Kleidung zur kleinen Geste der Utopie – zum Zeichen, dass Widerstand noch möglich ist. Nicht laut, nicht aggressiv, sondern still, entschieden, unbequem. 

    Und doch ist diese beharrliche Schwärze, so unzureichend sie bleibt, ein Akt des Widerstands – ein leises Bekenntnis zum Nichtidentischen und eine Affirmation dessen, dass nichts so sein muss, wie es ist.

  • Ist die Qualität bald auch nur noch künstlich?

    (English version below)

    Ein Essay von Carsten Prueser

    Die Idee von Qualität war einmal ein Versprechen: auf Verlässlichkeit, Handwerk, Urteilskraft, auf die erfahrbare Überlegenheit einer Sache über das Mittelmaß. In Schulen wurde sie benotet, in Werkstätten geschmiedet, an Universitäten gelehrt und in Redaktionen gepflegt. Heute wirkt sie zunehmend – prekär. Drei Entwicklungen tragen dazu bei: das Primat des Software-Paradigmas in der Digitalisierung, das Denken in agilen Schleifen und MVPs (minimum viable product), sowie die generative Künstliche Intelligenz als neue, scheinbar demokratische Wissensquelle.

    1. Vom Vollendeten zum Prozess

    „Done is better than perfect“ ist das Mantra der agilen Welt. In ihr wird Qualität nicht erreicht, sondern simuliert. Das „Minimum Viable Product“ (MVP) ist kein Ziel, sondern Startsignal. Fertig ist, was gerade überlebt. Was früher als Produkt galt, ist heute eine Hypothese mit Benutzeroberfläche. Innere Stimmigkeit, Durcharbeitung, Reife – alles dem Tempo geopfert. Die Qualität eines Gegenstands ergibt sich nicht mehr aus seiner Substanz, sondern aus seiner Reaktion auf den Markt. Wer klickt, hat recht. Wer iteriert, gewinnt.

    Künstliche Qualität

    Image: ChatGPT 2025, no rights

    2. Die digitale Form kennt kein Gewicht

    Digitalisierung bedeutet Entmaterialisierung. Code kennt keine Gravitation. Das digitale Produkt ist flüchtig, ungreifbar, endlos kopierbar. Seine „Qualität“ misst sich an Ladezeiten, Kompatibilität, KPI. Es gibt keine Patina, kein Widerlager. Im Digitalen verschwindet die Spur des Körpers, die Handschrift, die Arbeit, die Aura. Eine PDF-Dokument —anders als das verlegte, redigierte Buch— kann von einer Schüler:in, einer Professorin oder einem Algorithmus stammen – und wird gleichwertig konsumiert. Die Differenz verschwindet hinter dem Interface.

    3. Die KI als beliebige Autorität

    Mit ChatGPT, Midjourney und anderen Werkzeugen wird das Expertentum entgrenzt. Der Text der KI klingt autoritativ, ohne Autor zu sein. Wissen erscheint allgegenwärtig, aber es fehlt das Urteil. Das Verständnis für Kontexte, Widersprüche, Nuancen. Was bleibt, ist eine Ästhetik der Glaubwürdigkeit: plausibel, glatt, stromlinienförmig. So wird die Illusion von Qualität massenhaft reproduzierbar. Die Frage nach dem besseren Argument weicht der Frage: „Wird es geklickt?“

    4. Mittelmaß als Algorithmus

    Der Markt, der Algorithmus, der Feedback-Loop: Sie alle belohnen das Künstlich-Bewährte. Qualität wird zur Funktion von Aufmerksamkeit, nicht von Exzellenz. Das System ist effizient, aber gleichgültig. Es erkennt Muster, aber keine Ideen. Innovation wird zur Optimierung, Kritik zur Kommentarfunktion. Die Idee eines Werkes, das mehr ist als seine Performance-Metrik, wird randständig.

    5. Der Widerstand der Qualität

    Und doch bleibt sie: die Sehnsucht nach dem Besseren, dem Durchgearbeiteten, dem wahren Unterschied, dem Nicht-Identischen. Vielleicht wird Qualität in der Zukunft kein Standard mehr sein, sondern Dissidenz. Ein Akt der Verweigerung gegen die Verwertungslogik, ein Bekenntnis zur Mühe, zur Tiefe, zur Urteilskraft. Wer heute noch Qualität schafft, tut dies nicht für den Markt, sondern für die Wahrheit eines Anspruchs, für die Menschen, die spüren, wenn etwas gemeint ist.

    In diesem Sinne ist Qualität vielleicht bald nicht mehr natürlich, aber sie bleibt: menschlich.

    (Herzlichen Dank an Harald Monihart für den ursprünglichen, inspirierenden Gedanken beim Mittagessen — gleichzeitig ein verstecktes Votum gegen das Home Office 😉 )

    English Version

    Will quality soon be nothing more than artificial?

    An essay by Carsten Prueser
    (Translated with DeepL.com, *of course*)

    The idea of quality was once a promise: a promise of reliability, craftsmanship, discernment, and the tangible superiority of something above the average. It was graded in schools, forged in workshops, taught at universities, and cultivated in editorial offices. Today, it seems increasingly precarious. Three developments contribute to this: the primacy of the software paradigm in digitalization, thinking in agile loops and MVPs (minimum viable products), and generative artificial intelligence as a new, seemingly democratic source of knowledge.

    1. From completion to process

    “Done is better than perfect” is the mantra of the agile world. In it, quality is not achieved, but simulated. The “minimum viable product” (MVP) is not a goal, but a starting signal. What is finished is what survives. What used to be considered a product is now a hypothesis with a user interface. Inner consistency, thoroughness, maturity – all sacrificed to speed. The quality of an object no longer derives from its substance, but from its reaction to the market. Whoever clicks is right. Whoever iterates wins.

    2. The digital form knows no weight

    Digitization means dematerialization. Code knows no gravity. The digital product is fleeting, intangible, endlessly copyable. Its “quality” is measured by loading times, compatibility, KPIs. There is no patina, no counterweight. In the digital realm, the traces of the body, the handwriting, the work, the aura disappear. A PDF document—unlike a published, edited book—can come from a student, a professor, or an algorithm—and is consumed equally. The difference disappears behind the interface.

    3. AI as an arbitrary authority

    With ChatGPT, Midjourney, and other tools, expertise is becoming borderless. AI text sounds authoritative without having an author. Knowledge appears omnipresent, but judgment is lacking. Understanding of contexts, contradictions, nuances. What remains is an aesthetic of credibility: plausible, smooth, streamlined. Thus, the illusion of quality becomes mass-reproducible. The question of the better argument gives way to the question: “Will it get clicks?”

    4. Mediocrity as algorithm

    The market, the algorithm, the feedback loop: they all reward the artificially proven. Quality becomes a function of attention, not excellence. The system is efficient but indifferent. It recognizes patterns but not ideas. Innovation becomes optimization, criticism becomes a comment function. The idea of a work that is more than its performance metrics becomes marginal.

    5. The resistance of quality

    And yet it remains: the longing for the better, the well-crafted, the true difference, the non-identical. Perhaps in the future, quality will no longer be the standard, but dissidence. An act of refusal against the logic of exploitation, a commitment to effort, to depth, to discernment. Those who still create quality today do so not for the market, but for the truth of a claim, for the people who sense when something is meant.

    In this sense, quality may soon no longer be natural, but it remains: human.

    (Many thanks to Harald Monihart for the original, inspiring thought during lunch — at the same time a hidden vote against the home office 😉 )

  • Verloren in der Form – Carsten Pruesers „Untitled (Tate Modern, London)“

    Eine digitale Schwarzweißfotografie über Körper, Raum und Architektur

    Die Szene scheint zunächst kühl, fast unbeteiligt: Sichtbeton, nüchtern, rau, gegossen in präzise Geometrien. Eine Treppe führt diagonal durchs Bild, flankiert von massiven Wänden. Alles ist Architektur. Alles ist Struktur. Alles ist Oberfläche. Doch dann, ganz am Rand: ein menschlicher Kopf.

    „Untitled (Tate Modern)“, 2024.

    Carsten Pruesers „Untitled“, aufgenommen in der Tate Modern in London, ist ein stilles Meisterwerk der Ambiguität. Es zeigt ein Treppenhaus, wie es viele Museen aufweisen – doch hier wird es nicht bloß dokumentiert. Es wird dekonstruiert.

    Die Schwarzweiß-Ästhetik reduziert die Welt auf Licht und Schatten, Fläche und Linie. Der Beton wirkt nicht mehr wie Material, sondern wie Manifest. Und doch bricht in diese monumentale Form plötzlich ein Mensch hinein – nicht zentral, nicht beherrschend, sondern scheu, wie ein Zufall oder ein Irrtum der Ordnung.

    Dieser Kopf ist kein Protagonist. Er lugt aus dem rechten Bildrand, beinahe übersehen. Doch genau dadurch bekommt das Bild Tiefe. Denn mit ihm kommt der Zweifel in die Architektur. Der Körper, der nicht vorgesehen war. Der Mensch, der sich nicht einfügt. Das Leben, das der Struktur entweicht.

    In der Tate Modern ist diese Treppe ein Ort der Bewegung – aber Prueser friert sie ein. Kein Gehen, kein Kommen, nur ein Dazwischen. Eine Zwischenzeit. Ein Moment, der die Architektur ihrer Funktion beraubt und sie zur Bühne einer fast metaphysischen Spannung macht: zwischen Form und Leben, Entwurf und Realität, Macht und Subjekt.

    Dass Prueser digital arbeitet, ist hier nicht als Makel zu lesen, sondern als Teil der Aussage. Die Präzision des Digitalen verstärkt die Kälte des Raums, die Strenge des Designs – und macht den menschlichen Einschub umso irritierender. Der Kopf wird zum Störsignal. Oder zum Ruf.

    „Untitled“ ist ein Bild über Sichtbarkeit. Über das, was sich zeigt – und was übersehen wird.
    Es ist eine Fotografie, die nichts behauptet und gerade deshalb alles sagt.


    Foto: Carsten Prueser, „Untitled“, aufgenommen in der Tate Modern, London | courtesy Saatchi Art

  • Wo gehen die Tage hin, wenn sie vergehen?

    Where do days go when they go by? Wo gehen die Tage hin, wenn sie vergehen?
    „Where do days go…“ Marktstätte Konstanz, Fotografie von Carsten Prueser, 2024.

    Mitten auf dem Asphalt der Konstanzer Markstätte, einem Ort des Handels, des Flanierens, des Verweilens, sind gelbe Buchstaben aufgetragen:


    „WHERE DO DAYS GO WHEN THEY GO BY?“


    Ein Kind schreitet darüber hinweg – beiläufig, mit einem Ausdruck konzentrierter Zerstreuung. Um es herum: Straßencafés, Schaufenster, Passanten. Die Umgebung glänzt im Sonnenlicht des Konsums.

    Carsten Pruesers Fotografie hält diesen Moment fest – nicht frontal, nicht arrangiert, sondern aus der leichten Schräge, mit zurückgenommener Geste, fast so, als hätte sich die Kamera selbst in den Strom des Alltags eingeschrieben. Der Blick ist ruhig, beobachtend. Nichts ist überbetont, und gerade darin liegt ihre Kraft. Sie ist keine Inszenierung, sondern ein Innehalten.

    Die zentrale Achse des Bildes – das Kind, die aufgemalte Frage, der helle Steinboden – führt das Auge vom Vordergrund in eine diffuse Tiefe, in der die Stadt sich verliert. Es gibt keine klare Fluchtlinie, sondern eine Art oszillierendes Gleichgewicht zwischen Vordergrund und Hintergrund. Die Frage auf dem Boden wird dabei zum Ankerpunkt: Sie liegt wörtlich auf dem Weg, wortwörtlich zu Füßen des Kindes – wie ein stilles Mahnmal, das übertreten wird und dadurch erst sichtbar wird.

    Das Kind, das über die Schrift hinweggeht, scheint von ihr unberührt – und genau darin liegt eine doppelte Lesbarkeit: Zum einen ist es das Symbol für Unschuld, für eine noch nicht vereinnahmte Zeit. Zum anderen könnte man auch sagen: Die Frage verhallt. Kein Erwachsener bleibt stehen, niemand beugt sich nieder. Die Zeit ist zur Durchgangsware geworden, wie die Dinge in den Schaufenstern ringsum.

    Walter Benjamin hätte hier von der „Jetztzeit“ gesprochen – von einem Moment, in dem Geschichte und Gegenwart zusammenzucken. Das Bild ist so ein Moment. Nicht, weil es etwas Spektakuläres zeigt, sondern weil es in seiner Lakonie eine Wahrheit aufscheinen lässt: dass unsere Tage nicht einfach vergehen, sondern vernutzt werden. Dass die Erfahrung von Zeit – von wirklicher, gelebter Zeit – rar geworden ist.

    Adorno hätte das Bild womöglich als Dialektik im Stillstand verstanden: als Konstellation, in der das Nichtidentische aufscheint. Die kindliche Bewegung, der Satz am Boden, die festgefrorene Stadt – sie stehen in einem Verhältnis gegenseitiger Spannung. Und mittendrin: die Ahnung, dass es auch anders sein könnte.

    Denn im Kapitalismus ist Zeit kein Geschenk, sondern eine Ressource. Menschen verkaufen ihre Lebenszeit, Stunde für Stunde, im Tausch gegen Geld. Was vom Tag bleibt, ist das, was nicht verrechnet wurde – und genau diese Reste fragt die Schrift auf dem Boden an. Die Tage „gehen“ nicht nur – sie werden getaktet, verwertet, verplant. Das Kind im Bild steht – vielleicht zum letzten Mal – außerhalb dieses Tauschverhältnisses.

    Und dennoch: Die Fotografie ist kein romantisches Idyll. Sie ist Beobachtung – und, in ihrem besten Sinne, Kritik. In ihr blitzt auf, was Benjamin das „dialektische Bild“ nannte: ein Fragment der Gegenwart, das sich gegen die falsche Totalität behauptet. Nicht laut, nicht plump. Sondern in der Art, wie ein einzelner Blick, festgehalten in Licht und Zeit, die Frage stellt, die zu selten gehört wird:


    Wo gehen unsere Tage hin, wenn sie vergehen?

  • Kuponkönige, Kronentouristen und ein verkaufter Affront

    von Carsten Prueser

    Warum der Hohenzollern-Deal die Republik verhöhnt

    In einer Republik, die sich gern auf ihr antifaschistisches Gründungsversprechen beruft, wirkt der Kompromiss vom 12. Mai 2025 wie eine plötzliche Amnesie‑Attacke im kollektiven Gedächtnis. Während draußen vor den Museen Schulklassen Schlange stehen, um Preußens Glanz und Gloria zu bestaunen, verhandelte drinnen ein aussterbender Sozialdemokrat im Kanzleramt mit den Erben jenes Hauses, das Kriege, Kolonialverbrechen und – spätestens in Gestalt des notorischen Kronprinzen Wilhelm – aktive Nazi‑Hoffnungen großzügig befeuerte. Dass Olaf Scholz, der vielleicht letzte rote Hausherr dieser Republik, seine letzten Amtswochen damit zubrachte, den Weg für diesen „Vergleich“ freizuboxen, setzt der Tragikomödie eine verstörend ironische Krone auf.

    Glücklich über das Hitler-Kabinett: Prinz Wilhelm von Hohenzollern

    Ein fauler Frieden – die Mechanik des Deals

    • Stiftung Hohenzollernscher Kunstbesitz: Allein die elegante Etikette kann nicht verbergen, dass hier Staatsvermögen mit Adelsgier versöhnt wurde. Rund 10 000 bis 27 000 Objekte – von Cranachs Tafelbildern bis zu Frackknöpfen maroder Kaiser – wandern in eine neue Stiftung, deren Kuratorium zwei Drittel öffentlich besetzt ist, während die Hohenzollern drei Sitze und damit Vetorechte kassieren.
    • Rechtsfrieden gegen Rechte: Im Gegenzug zieht Georg Friedrich Prinz von Preußen alle anhängigen Klagen zurück und verspricht, keine weiteren Entschädigungen mehr zu fordern. Das kostet ihn exakt: nichts. Die Republik erspart sich Prozessrisiken – und bezahlt mit ihrer Würde.
    • Leihgaben bleiben Leihgaben: Einige der legendären Schnupftabakdosen (sieben an der Zahl) verbleiben als „Dauerleihgaben“ in den Museen; fünf darf der Clan jederzeit zurückfordern – feiner Unterschied zwischen Eigentum und Dekoration.

    Legitimation? Ein rhetorisches Perpetuum mobile

    Die Hohenzollern berufen sich auf dieselbe demokratische Werteordnung, die ihre Vorfahren mit Blut und Eisen verhöhnt haben. Sie behaupten „Kontinuität des Familienbesitzes“ – ein hübscher Euphemismus für Beutegut aus feudaler Ausbeutung, preußischem Militarismus und blanker Kollaboration mit dem braunen Terror. Die Republik hingegen tut so, als handele es sich um bloß „strittige Kunstgegenstände“, nicht um historisch verfestigtes Unrecht.

    Der sozialdemokratische Kotau

    Dass ausgerechnet ein Sozialdemokrat – und nicht etwa ein Nostalgiker aus monarchistischer Folklore – diesen Kotau vollzieht, ist politischer Selbstverrat in Reinform. Die SPD wurde einst gegründet, um Junker und Kuponschneiderdas Fürchten zu lehren; ihr letzter Kanzler rettet ihnen nun die Rendite ihrer Plünderzüge. Man verhandelt Diskriminierung nicht – man beseitigt sie.

    Der Adelstitel als Designer‑Accessoire

    Bleibt das Privileg der Namensdekoration: Das präfixhafte „von“ wirkt heute wie ein gefettetes Placebo, das die ahnungslose Öffentlichkeit über die Nichtexistenz erblich sanktionierter Rangordnungen hinweg­täuscht. Darauf hereinzufallen heißt, den schimmernden Puder der Hierarchie auf eine Gesellschaft zu streuen, die Leistungsgerechtigkeit predigt, aber vor dem Stammbaum niederkniet.

    Resümee – Historische Verantwortung oder historischer Ausverkauf?

    Der Deal ist kein Akt der Versöhnung, sondern eine kapitulative Geste gegenüber dekadenter Nostalgie. Er konserviert feudale Besitzansprüche unter dem Glassturz gemeinnütziger Rhetorik und stellt den Coup noch als kulturpolitischen Geniestreich aus. So feiert die Republik ihren eigenen Etikettenschwindel: Rechtsfrieden statt Gerechtigkeit, Schaufenster‑Demokratie statt moralischer Klarheit.

    Die Untertanen von gestern zahlen heute die Zinsen – still, brav und kulturbeflissen. Man könnte es als Lehrstück in bundesrepublikanischer Konfliktvermeidung betrachten. Oder man nennt es beim Namen: ein Schlag ins Gesicht jener demokratischen Tradition, die 1918 versäumte, den Adel zu enteignen, und 2025 nicht einmal mehr laut „Es reicht!“ zu rufen wagt.

    Denn die Geschichte urteilt nicht milde über jene, die ihre Lektionen vergessen. Sie notiert jeden Kotau mit spitzer Feder – und hat ein langes Gedächtnis.

  • Wer ist hier eigentlich indigen?

    Ein Kommentar von Carsten Prüser

    Das Wort „indigen“ wabert in jedes deutsche Debattenrund wie Räucherwerk, meist in der hippen Originalschreibweise „Indigenous“ — schön englisch, schön modisch. Übersetzt man es ehrlich mit „eingeboren“, knirscht es plötzlich im Gebiss des Wohlfühlvokabulars: Eingeborene? In Deutschland?

    Jüngstes Beispiel: Ein Kirchentags‑Workshop nur für „Black, Indigenous und Kinder of Color“. Schon drängt sich die Frage auf, wer in der Bundesrepublik eigentlich diesen dritten Sitzplatz am Identitätstisch beanspruchen darf. Die Bajuwaren? Die Sachsen? Oder doch die Nachfahren des Herzogtums Braunschweig, seit über hundert Jahren unter Rädern wechselnder Staatsnamen?

    Migration war hierzulande nie Ausnahme, sondern Grundrauschen der Geschichte. Wer legt fest, ab welcher Generation man als „vor Ankunft der Immigranten“ gilt? Drei? Zehn? Hundert? Das wäre ungefähr Karl der Große. Tausend? Dann landen wir bei den Kelten, die prompt erklären dürften, dass weder Römer noch Germanen besonders indigen waren. Und die 1000 Jahre wecken hier schon ganz andere Assoziationen. Aber dahin führt ein Denken, das eben auch „völkisch“ ist.

    Briefmarke der Deutschen Bundespost von 1987 mit Winnetou-Figur in einem fransigen hellen Anzug stehend, mit einer gesenkten Flinte in den Händen
    Briefmarke der Deutschen Bundespost von 1987

    Die US‑Debatte, aus der der Begriff stammt, hat ein konkretes historisches Szenario: europäische Kolonisten verdrängen existierende Völker. In Deutschland fehlt genau dieses klare Vor‑und‑Nach dem „Immigrationsereignis“. Wir haben kein gesellschaftliches Parallelregister, in dem ein Navajo mit deutschem Pass als „indigen“ gewertet wird, während der Münchener in Hamburg demnächst „postkolonialer Siedler“ ist.

    Bleibt also nur eine semantische Resteverwertung: „Indigen“ als Stempel, mit dem die neuen Medizinmänner der politischen Korrektheit Zugehörigkeit verteilen – und damit zugleich neue Ausgrenzung zementieren. Anstatt Menschen nach gleichen Rechten zu behandeln, ordnet man sie in Schicksalskategorien ein, deren Haltbarkeitsdatum spätestens bei der nächsten Ahnenforschungs‑App zerbröselt.

    Wer wirkliche Gleichberechtigung will, braucht kein kulturtheoretisches Reservatsdenken, sondern universelle Prinzipien. Grundgesetz statt Gralsgeschichte. Viel besser wäre es, „indigen“ schlicht ins Panoptikum der schönen Fremdwörter zurückzustellen. Dort kann es neben „echt swag“ oder „zeitgeistig“ verstauben, bis wir uns wieder daran erinnern, dass Menschenrechte nicht erblich sind – sondern universell und unveräußerlich.

  • The King – alles nur geklaut?

    Elvis in Frankfurt, als die Züge der Deutschen Bahn noch pünktlich waren.

    The King — Alles nur geklaut?

    Heute wird dem „King of Rock’n’Roll“, hier als Hauptfigur im Musikfilmchen „Frankfurt Special“, plötzlich „kulturelle Appropriation“ aufs Paillettenkostüm gepinnt. Dabei wissen wir längst, was Kirby Ferguson nachgewiesen hat:

    Everything is a Remix.

    Doch wer selbst null Remix-Talent besitzt, meldet sich pflichtschuldig mit der (aus der Neuen Deutschen Welle geklauten) Leier: „Wann hört ihr endlich auf, unsere Schwarze Musik zu klaun?“ – als müsste man bei Chuck Berry erst das Sample‑Formular abstempeln, bevor man seine Gitarre stimmt.

    Der Deutschrap – seit Jahrzehnten Meister im Cut‑and‑Paste – hat dafür nur eine Kurzmeldung an die politisch korrekten, links-identitären Feuilleton‑Spießer übrig:

    Halt die Fresse, Digga!

    Wer keinen eigenen Groove findet, zeigt eben mit dem Moral‑Lineal auf andere. Der Rest dreht die Lautstärke hoch und mischt munter weiter. (CP)

  • Von Diversitäts-Feenstaub und der großen Umarmung des Kapitals

    Kommentar

    Von Carsten Prüser

    Es wirkt fast schon wie ein schlechter Scherz der Geschichte: Während sich die Marketing‑Abteilungen globaler Konzerne in den Farben des Regenbogens verkleiden und Universitäten Seminare mit Titeln wie „Dekolonisiere dein Denken“ stapeln, rattert dieselbe Gewinnmaschine ungebremst weiter – lauter, glänzender, gieriger denn je. Critical Race Theory, Queer Theory, Postcolonial Studies und die ganze Squad ihrer dekolonialen Ableger geben sich radikal, doch am Ende liefern sie dem Kapitalismus genau das Schmieröl, das er für seinen nächsten Turbogang braucht: neue Märkte, neue Zielgruppen, neue Moralklebstoffe, mit denen sich jeder Widerspruch flicken lässt.

    Feinstaub (Symbolbild) Foto: amazon.de

    Sehen wir uns die Praxis an: Tech‑Giganten preisen „algorithmic fairness“, während sie weiterhin die globale Südhalbkugel als Rohstoff‑ und Datenmine ausbeuten. Modekonzerne erklären „Empowerment“ zum Hashtag, lassen aber ihre Kollektionen weiterhin in asiatischen Nähfabriken zusammennähen – nur dass das Logo auf dem T‑Shirt jetzt Swahili‑Slang oder eine Regenbogenflagge trägt. Und Universitätsstädte wie Frankfurt drehen sich im intellektuellen Karussell aus „white privilege checks“, „queer‑of‑color critique“ und „safe spaces“, während vor der Mensa die migrantischen Liefer‑Rider mit kaputten Knien in Fahrradkuriere zweiter Klasse verwandelt werden.

    Der Trick ist genial: Ob sich Postcolonial Studies, Queer Theory, LatCrit oder die neuesten Settler‑Colonial Studies aufs Etikett schreiben – statt den Kapitalismus infrage zu stellen, werden Begriffe wie „Rasse“, „Geschlecht“ oder „Kolonie“ aus der Mottenkiste geholt und mit Identitätspolitik aufgeladen. So verlagert sich der Konflikt von der Produktions‑ in die Diskursebene. Wer jetzt gegen Ausbeutung protestiert, muss sich zuerst durch eine Stolperstrecke sprachlicher Tabus kämpfen und die korrekte Grammatik der Betroffenheit beherrschen. Das Ergebnis? Streiks und Mietenkämpfe verschwinden aus den Schlagzeilen, während Talkshows minutenlang um Pronomen und Trigger­warnungen kreisen. Nebenschauplätze werden Hauptbühnen – und das Publikum klatscht brav.

    Genau davon profitiert eine kleine, privilegierte Kaste von Akademiker:innen, die sich in der Glanzwelt dieser Diskurse gutbezahlte Komfortposten zurechtgezimmert hat. Stiftungsprofessuren, Diversity‑Stabsstellen, beratende „Awareness‑Consultancies“ – die Panel‑Honorare fließen, die Drittmittel sprudeln. Statt ihre intellektuelle Feuerkraft in den Dienst des Ganzen zu stellen, kuratieren sie elitäre Sprach‑ und Zertifikatscliquen, die die Zugangsbarrieren für die Mehrheit nur weiter erhöhen.

    Noch perfider ist der Nebeneffekt: Wenn sich ein Konzern die Diversitäts‑ oder Pride‑Medaille ans Revers heftet, darf er im Gegenzug nahezu alles andere weiter­betreiben wie gewohnt. Sklavenähnliche Arbeits­bedingungen in Kobaltminen? Halb so wild, solange der HR‑Newsletter das neueste „Inclusivity Pledge“ feiert. Sanierungs­stau in den Arbeitervierteln? Wird übertüncht mit Community‑Murals in politisch korrekten Pastelltönen. Die Botschaft lautet: Wir sehen euch, wir hören euch – aber bitte stört den Umsatz nicht.

    Ja, an einzelnen Stellen entstehen Inseln des Fortschritts: bessere Sichtbarkeit, Stipendien, Token‑Führungs­positionen. Doch die Rechnung geht nur auf, wenn man die Mehr­heitsklasse der prekär Arbeitenden übersieht. Deren Löhne stagnieren, deren Wohnen wird unbezahlbar, deren Lebenszeit verschwindet im Schichtplan. Für sie ist das neue Diversitäts‑Vokabular so hilfreich wie ein Hochglanz­prospekt in einem brennenden Haus.

    Fassen wir zusammen: Critical Race Theory, Queer Theory und ihre dekolonialen Geschwister mögen sich revolutionär gebärden, doch sie enden häufig als Feenstaub auf der Visage eben jener Ordnung, die sie angeblich demontieren. Wer ernsthaft Emanzipation will, muss zum Kern zurückkehren: Eigentum, Produktion, Verteilung – altmodische Wörter, ja. Aber ohne sie bleibt jeder Befreiungs­diskurs bloß ein weiterer Lottoschein im Casino des Kapitals.

    Vielleicht wird es Zeit, den Glamour des Diskurses abzustreifen und wieder über nackte Macht­verhältnisse zu sprechen. Das wäre zwar weniger instagramfähig – aber endlich wirklich provokant.