Kategorie: Kritik

  • „Frankfurt School“ – ein Etikettenschwindel als Geschäfts­modell

    von Carsten Prueser

    Manchmal verraten sich Institutionen weniger durch das, was sie lehren, als durch das, was sie sich nennen. Seit 2007 firmiert die frühere Bankakademie als Frankfurt School of Finance & Management – eine private Hochschule, die in glänzendem Glas ihre Zukunftversprechen an der Adickesallee stapelt. Allein schon das Schild am Eingang provoziert ein unwillkürliches Stirnrunzeln: Frankfurt School? War da nicht etwas mit Horkheimer, Adorno und der Kritik der instrumentellen Vernunft? Tatsächlich ist „Frankfurter Schule“ seit fast einem Jahrhundert die Chiffre für eine Tradition, die Ökonomie, Kultur und Machtverhältnisse schonungslos seziert hat – und gerade vor der Verwandlung von Bildung in Ware warnte. 

    Halbbildung als Corporate Design

    Der Namenklau wirkt wie eine Selbstentlarvung. Adorno fasste Halbbildung einst als Mischung aus technischem Können und geistiger Provinz zusammen. Genau diese Halbbildung wird hier zum Corporate Design: Ökonomie wird auf Kalkül, Management auf Kennzahl, der Mensch auf „Human Capital“ reduziert. Wer seine Prunkfassade mit dem Signet School krönt, kommuniziert Weltoffenheit; wer dabei verschweigt, dass das Original jenes Namens die Marktlogik gerade nicht vergöttert, sondern kritisiert hat, bekennt ungewollt eine bemerkenswerte Bildungslücke. Halbbildung stößt mit Sekkelchen an und bleibt doch Halbbildung.

    Instrumentelle Vernunft – jetzt im Studiegebührentarif

    Die Kritische Theorie diagnostizierte, dass Vernunft in der Moderne zur bloßen Nützlichkeitratio schrumpft – zur Rationalität der Maschine, die nur noch nach Ertrag fragt. Diese „instrumentelle Vernunft“ findet in den Hörsälen der neuen Frankfurt School ein Zuhause, wenn Effizienz­steigerung und „Return on Education“ zum Leitfaden erklärt werden. Die Dehumanisierung folgt system­immanent: Wer Lernende als „Investoren in ihr eigenes Humankapital“ anspricht, beraubt sie des Rechtes auf Bildung als Selbszweck. Entmenschlichung beginnt nicht erst im Sweatshop, sondern in der Sprache der PowerPoint-Folie. 

    Kapitalismus in Hochglanz – Kritik in Klammern

    Natürlich darf eine Hochschule betriebwirtschaftliche Exzellenz anstreben. Nur grenzt es ans Absurde, dafür ausgerechnet den Namen jener Denkschule zu borgen, die den Kapitalismus als Totalität analysierte, in der alles – auch das Denken – zur Ware wird. Die Dialektik ist perfekt: Indem die Business School das Etikett „Frankfurt School“ monetarisiert, führt sie den theoretischen Befund ihrer Namenpatin vor. Wo früher dialektische Aufklärung stand, steht heute der Master in Finance; wo Emanzipation gedacht wurde, wird ECTS-Punkte-Optimierung kalkuliert. Die Selbsbeschreibung verrät genau das, was sie vertuschen will: Man verkauft den Schein kritischer Tiefe, um die Tiefe der Kritik zu neutralisieren. 

    Die Ökonomie des Rufes

    Namensrechte sind ein Kapital. Der äußere Klang „Frankfurt School“ sichert sofortige Google-Resonanz, international klingende Seriosität, Ranking-Fortune. Wer den diskursiven Ruhm der Kritischen Theorie ausschlachtet, erhält nicht nur einen Marketing-Coup; er delegitimiert zugleich die historische Bedeutung jener Theorie. Das ist Markestrategie im Zeitalter der Aufmerksamkeit: Bedeutungen werden nicht geschaffen, sondern ge-re-labeled. Der intellektuelle Mehrwert wird extrahiert wie Rohöl, raffiniert zu Image und an die nächste Bewerbekohorte verkauft – zu Semestegebühren von derzeit knapp 8 000 Euro. 

    Entmenschlichung im Curriculum vitae

    Adorno warnte vor der „Kulturindustrie“, die Menschen zu Konsueinheiten forme. Die Business School perfektioniert diese Logik, indem sie die Studierenden selbst zu Produkten ihres CVs macht. Soft-Skills-Labs, Leadership-Tracks, Networking-Events – alles Bausteine des vermarktbaren Selbst. Entmenschlichung im Zeitalter des Selbst-Unternehmers ist nicht mehr Zwang, sondern Pflicht­selbst­optimierung. Die Hochschule liefert das Werkzeug, die Studierenden liefern die Selbst­Verwertung. „Eigenkapitalrendite“ heißt hier „Employability“. 

    Was bleibt? Ein offener Widerspruch

    Bleibt die Frage, warum eine Institution, die stolz den Geist des Marktes atmet, nicht auch den Mut hat, sich entsprechend zu benennen – etwa „Frankfurt Business Academy“. Die Antwort ist so banal wie entlarvend: Weil Kapitalismus längst kapiert hat, dass kultureller Mehrwert profitabler ist als nackte Nützlichkeit. Der Name „Frankfurt School“ ist eine Gratisdividende an symbolischem Kapital. So zeigt gerade der Etiketteschwindel, wie recht die alte Frankfurter Schule hatte: Selbst der kritische Geist wird kommodifiziert, sobald er Rendite verspricht.

    Und doch liefert die Frankfurt School damit unbeabsichtigt ein perfektes Lehrstück – nicht über Finance, sondern über Ideologiekritik. Wer den falschen Namen trägt, trägt ihn wie ein Spiegel: Er reflektiert die eigene Blöße. Halbbildung, Entmenschlichung, instrumentelle Vernunft – alles steht schon auf der Visiten­karte, man muss nur lesen können.

  • Sag doch einfach, was ist!

    von Carsten Prueser

    Die Krise der deutschen Leitmedien ist längst mess- und zählbar – und sie ist selbst verschuldet. Im Jahr 2001 verkaufte die Frankfurter Allgemeine Zeitung noch gut 400 000 Exemplare pro Tag; heute sind es keine 180 000 mehr – ein Minus von über 56 Prozent.   Die Süddeutsche Zeitung fiel im selben Zeitraum von rund 431 000 auf knapp 270 000 Stück: minus rund 37 Prozent.  Nur Die Zeit konnte – dank E-Paper-Boom – ihre Verkaufszahl von 443 000 (2001) auf zuletzt über 630 000 (2025) steigern.  Doch der statistische Ausreißer ändert nichts am Trend: Das einstige Vertrauensmonopol bröckelt, weil die Leserinnen und Leser den Klartext vermissen.

    Wenn Formulierungen zur Filterblase werden

    Deutsche Qualitätsredaktionen paraphrasieren unentwegt – und bewerten dabei schon, bevor Fakten auf dem Tisch liegen:


    • „Ein täglich erscheinendes Massenblatt“ – so nennt die FAZ ihre Konkurrenz, statt schlicht „Bild“ zu schreiben. Das ist nicht nur schmallippig, es ist eine Geringschätzung der Leserschaft: Wir sagen dir nicht, wer es war, du wirst es schon erraten.


    • Ein Politiker twittert: „Geflüchtete sind eine Gefahr für unsere Kultur.“ Die Zeitung macht daraus: Er äußerte sich kontrovers zum Thema Migration. Wertung statt Wortlaut.


    • Eine Konzernsprecherin gesteht: „Wir haben Abgastests manipuliert.“ Die Meldung lautet: Es kam zu Unregelmäßigkeiten bei den Messungen.


    • Ein Ex-Minister ruft Journalisten „Volksverräter“. Die Nachricht: C übte in einer scharfen Wortmeldung Medienschelte.


    • Eine Neonazi-Gruppe verbreitet Anschlagspläne auf Telegram. In der Zeitung heißt das: Eine dem rechten Spektrum zugeordnete Gruppierung äußerte Gewaltfantasien.

    Jede dieser Umschreibungen ist formal korrekt – und dennoch bevormundend. Die Redaktion kennt den Originalton, kennt Ross und Reiter, reicht dem Publikum aber nur das destillierte Urteil. Wer so arbeitet, behauptet implizit: Es reicht, wenn wir die Details kennen, wir erklären dir die Welt.

    Bloß eine Kategorie oder zu benennender Titel? Axel Springers Bild-Zeitung

    Die Quittung auf dem IVW-Kontoauszug

    Die Auflagenzahlen zeigen, was davon zu halten ist. Menschen, die täglich mit Desinformation, Social-Media-Echo und politischem Spin konfrontiert sind, sehnen sich nach belastbaren Quellen. Doch anstatt Klartext zu liefern, spielen manche Redaktionen Rätselraten: BILD wird zum „Massenblatt“, Rassismus zum „Kontroversen“, Manipulation zum „Unregelmäßigkeit“. Wer derart verklausuliert, verliert das Wichtigste überhaupt – Vertrauen.

    Dass ausgerechnet viele US-Medien, oft als schrill verschrien, hier Vorbilder sind, sagt viel über den Zustand bei uns: Dort heißt es “Bild newspaper reported …“ – fertig. Kein Feuilleton-Augenzwinkern, kein Paternalismus. Nur Fakten, dann Bewertung. Genau diese Trennung braucht eine Demokratie, die auf die Urteilskraft ihrer Bürger setzt.

    Der demokratische Imperativ: Fakten vor Haltung

    Persönlichkeitsrechte schützen? Ja, unbedingt. Sorgfalt, Gegenrecherche, Fairness? Ebenfalls. Aber wer aus juristischer Vorsicht eine Sprach­tradition der Verhüllung macht, erzieht sich sein Publikum ab. Die Zahlen sind eindeutig – sie fallen, weil der Leser erkennt, dass zwischen Information und Interpretation ein trüber Nebel liegt.

    Die Lösung ist einfach: Ross und Reiter nennen, Originaltöne abdrucken, Fehltritte benennen und erst dann kommentieren. Nicht „kontrovers“, sondern „er sagte genau das“. Nicht „dem rechten Spektrum zugeordnet“, sondern – wenn es zutrifft – „rechtsextrem“. Nicht „Massenblatt“, sondern „Bild“. Alles andere ist Distinktionsgewinn für die Redaktion und Informationsverlust für die Gesellschaft.

    Sagt doch einfach, was ist. Wer das nicht tut, darf sich über sinkende Auflagen und schwindende Glaubwürdigkeit nicht wundern.

  • Kritik eines fotografischen Statements aus Willets Point, Queens

    Kritik eines fotografischen Statements aus Willets Point, Queens

    Ohne Titel, Willet Point, Queens, NYC
    „Ohne Titel — Willet Point, Queens“. Carsten Prueser, 2019.



    Zur Ästhetik des Urbanen am Ende des industriellen Zeitalters

    von Martin Schwendtler

    Dieses kraftvolle fotografische Werk, aufgenommen in Willets Point, Queens, NYC – einem der letzten urban-industriellen Slum-Enklaven in New York City – ist mehr als eine Momentaufnahme. Es ist ein dokumentarisch-ästhetisches Zeugnis spätkapitalistischer Verhältnisse und erzählt in leuchtendem Gelb und rostigem Braun von Herrschaft, Globalisierung, Migration und der Verdinglichung des Menschen.

    Die gestapelten gelben Stahlcontainer – industriell genormt, schwer, funktional – erscheinen wie uniformierte Körper, ihrer Individualität beraubt, entleert ihrer Funktion, nur noch Zeichen und Chiffren. Diese Container tragen die Spuren der Nutzung und Abnutzung – Rost, Kratzer, abgeplatzte Farbe –, wie Körper, die durch das Getriebe der globalen Arbeitsteilung gegangen sind. Sie stehen stellvertretend für die unsichtbaren Existenzen, die in urbanen Schattenräumen wie Willets Point arbeiten: marginalisiert, prekarisiert, systemrelevant und doch zugleich unsichtbar.

    Die Szenerie ist eingerahmt von Blechwänden, Schutt, provisorischer Infrastruktur. Es gibt keine Ornamentik, keine Menschen, keine Werbung – nur das, was bleibt, wenn der Kapitalismus sich seiner Oberfläche entledigt. Der Ort, an dem der Konsum endet, bevor er in den nächsten Zyklus überführt wird. Willets Point ist ein „nicht-repräsentierter“ Raum – eine Randzone der Weltmetropole, in der sich die Rückseite der Globalisierung manifestiert.

    Die hier sichtbare Ordnung der Container ist keine zufällige. Sie ist Ausdruck technokratischer Kontrolle über das Chaotische, über das „Unreine“ (im Sinne Mary Douglas’). Es ist der Versuch, die Beweglichkeit der Migration, der Körper, der Dinge zu normieren und in eine industrielle Grammatik zu überführen. Die Abwesenheit von Menschen in der Aufnahme ist dabei kein Mangel, sondern ein Verweis: auf die Unsichtbarmachung der Arbeit und derjenigen, die sie verrichten. Ihre Präsenz ist gespiegelt in den Spuren, im Werkzeug, in der Struktur.

    So wird das Bild zur kritischen Parabel auf Verdinglichung – im Sinne der Kritischen Theorie. Die Menschen erscheinen nur durch das, was sie tun; und das, was sie tun, wird zur Ware, zum Ding. Die Container sind das Medium dieser Transformation: Dinge, die durch Menschen bewegt werden, um Dinge zu transportieren, die wiederum Menschen bewegen.

    Diese Fotografie ist keine bloße Stadtansicht – sie ist ein politischer Text. Sie zeigt ein urbanes Biotop, das im Begriff steht, von der Gentrifizierung verschlungen zu werden, aber noch Zeugnis ablegt vom Innersten der modernen Herrschaft: der Kontrolle über Raum, Körper und Arbeit. In der Ästhetik des Banalen findet sich hier eine große Würde – und eine stille Anklage.

  • KI oder das neue Paradigma der Kreativität

    von Martin Schwendtler

    Künstliche Intelligenz rüttelt an der alten Ordnung des Schöpferischen. Seit jeher strecken wir Menschen unsere Reichweite mit Werkzeugen: vom Faustkeil über die Druckerpresse bis zur Kamera. Doch erstmals stellt uns ein Werkzeug nicht nur neue Formen zur Verfügung – es erzeugt eigene Inhalte. Damit erfüllt sich Marshall McLuhans Diktum, dass „the medium is the message“: Form und Inhalt werden untrennbar, weil das Medium – hier die künstliche Intelligenz samt ihrer Plattformen – die Aussage selbst prägt. Dieses Diktum hatte schon immer Gültigkeit, doch heute ist es für alle sichtbar: Das Medium selbst ist die eigentlich treibende Kraft jeder kulturellen Veränderung.

    So verlagert sich der kreative Brennpunkt. Früher stand das mühsame Arbeiten an Entwürfen im Zentrum; heute ist der Moment der Veröffentlichung der eigentliche Schöpferische Akt. Ideen überschreiten die Schwelle zur Manifestation in Sekunden. Redaktion wird Kreation — nicht ohne Grund erfährt der Begriff des Kurators, des Kuratierens einen nie gesehen Aufschwung.

    In dieser Welt gilt beinahe brutal: Nur was öffentlich ist, existiert. Wer nicht erscheint, ist ungeschehen. McLuhans Einsicht verschärft sich: Nicht nur bestimmt das Medium die Botschaft, sondern die algorithmische Distribution bestimmt ihr Existenz. Aus Perception is reality wurde Attention is existence.

    Die entscheidende Frage an künstliche Intelligenz lautet daher nicht mehr, wie sie uns beim Mehr-Produzieren hilft – das Überangebot ist längst da. Sondern: Wie kann sie unsere Wahrnehmung weiten, kuratieren, Resonanzräume öffnen, damit Bedeutendes im Rauschen nicht erstickt? Vielleicht liegt die nächste Evolutionsstufe maschineller Kreativität darin, das Aufmerksamkeitsbudget intelligenter zu verteilen oder zu Erweitern.

    Die Zukunft der Kreativität liegt weniger im Machen als im Sehen. Und vielleicht wird künstliche Intelligenz vom Generator zum Resonator: ein System, das nicht nur neue Welten baut, sondern uns befähigt, sie wahrzunehmen – mitsamt den Medien, die ihre Bedeutung formen.

  • Wo einst Gott war, steht nun Trump

    Über das Vakuum zwischen Gefühl und Wissen – und wie es sich mit goldenen Hüten und Führerkulten füllt.

    Von Carsten Prueser

    Es gibt einen Satz, der zunächst befremdet, dann aber mit bestechender Klarheit die amerikanische Gegenwart deutet: Donald Trump ist die Umkehrfunktion des Niedergangs organisierter Religion. Was wie eine steile These klingt, verweist auf eine tiefe Wahrheit über die menschliche Psyche – und über das politische Amerika unserer Zeit.

    Trump der Herr, Gott oder Götze?

    Zwischen Gefühl und Wissen liegt ein Raum, in dem einst der Glaube wohnte. Vor der Aufklärung, vor Rationalismus und Vernunft, war dies das Revier der Religion: Sie gab den Menschen Sinn, Trost, Ordnung – und ein Gefühl, Teil eines größeren Ganzen zu sein. In den USA war dieses Arrangement besonders langlebig. Kirche war nicht nur Sonntagsritual, sondern moralische Instanz, Sozialnetz, kollektiver Mythos.

    Doch das hat sich verändert. In nur wenigen Jahrzehnten hat Amerika eine Art Turbo-Säkularisierung erlebt. Die Kirchen leeren sich, besonders bei jenen, die einst ihr Rückgrat bildeten: der weißen Arbeiterklasse. Die einst fromme „Moral Majority“ ist zu einer konfessionslosen Masse geworden, die zwar die Bibel schätzt, aber sonntags lieber zu Walmart fährt als zur Messe.

    Und so ist ein Vakuum entstanden. Kein religiöses im engeren Sinne – sondern ein psychologisches. Ein Vakuum an Sinn, Gemeinschaft, Erlösungserzählung. Was fehlt, ist nicht das Dogma, sondern der Rahmen, der dem Einzelnen sagt, wer er ist, wofür er lebt und wem er vertraut. Genau in diesen Raum dringt Trump vor. Mit der Präzision eines Missionars – nur ohne Transzendenz.

    Was Trump bietet, ist nicht bloß Politik. Es ist Liturgie. Seine Wahlkampfveranstaltungen gleichen Erweckungstreffen. Da wird gebetet, geweint, geschworen. Die MAGA-Kappe ist das Taufkleid, der „Deep State“ der Satan. Und Trump – der gesalbte Retter. Fast die Hälfte der weißen evangelikalen Protestanten glaubt, er sei von Gott gesandt.

    Aber es sind nicht nur die Frommen. Es sind vor allem die Enttäuschten. Die, deren Kirchen zu Discountern wurden, deren Pastoren zu Skandalträgern, deren Gemeinden zu Geisterstädten. Wer früher im Kirchenchor sang, steht heute im Sprechchor „Lock her up!“. Der Wechsel ist fließend – nur das Ziel hat sich verschoben.

    In dieser Bewegung steckt ein gefährlicher Zauber. Denn Trump ersetzt nicht einfach Religion – er pervertiert sie. Wo Glaube Demut verlangte, fordert er Gehorsam. Wo Religion zur Versöhnung rief, predigt er Spaltung. Sein Kult ist die Religion der Vereinzelten: kein Himmel, nur Identität. Kein Jenseits, nur „America First“.

    Das eigentliche Drama liegt nicht in Trumps Erfolg. Es liegt in der Leerstelle, die er füllt. Eine Leerstelle, die die liberalen Eliten gerne ignorieren. Doch wer versteht, dass viele Trump-Anhänger nicht nur politisch, sondern seelisch heimatlos sind, wird begreifen, dass kein Faktencheck, kein Skandal, kein Gerichtsurteil dieses Bedürfnis nach Sinn auslöschen kann.

    Wenn Gott auszieht, zieht nicht zwangsläufig die Vernunft ein. Manchmal kommt der goldene Götze. In Amerika trägt er eine rote Kappe.

  • Heimat im Hypothekenfieber

    Ein Essay über das Marktversagen, die Sehnsucht nach Eigentum – und den leisen Tod des Gemeinsinns

    von Carsten Prueser

    Die Statistik kennt keine Gemütlichkeit. Während in den Schaufenstern der Makler „Wohnträume“ versprochen werden, rutschen immer mehr Haushalte in jene stille Schockstarre, in der sich die monatliche Last der Miete wie eine zusätzliche Wand im eigenen Wohnzimmer anfühlt. Der Mietmarkt weist Symptome auf, die selbst liberalen Ökonomen das Wort „Versagen“ entlocken: Angebotsknappheit trotz Rekordbestand, Preise, die sich von den Löhnen entkoppeln, Immobilienkonzerne, deren Gewinne wachsen, obwohl der Kran auf vielen Baustellen stillsteht. Das Seltsame daran: All die Kurven, Kennziffern und Fondsberichte wirken plötzlich wie Rauchschwaden, sobald man mit Mietenden spricht – sie klagen nicht über Prozentpunkte, sondern über das Gefühl, aus der eigenen Stadt hinausgedrängt zu werden.

    Doch jenseits der Mietmarktkrise gärt ein zweites, weniger beleuchtetes Drama: das deutsche Modell des Eigenheims. Lange galt es als republikanischer Mythos – solide, sparsam, sittlich. In der Nachkriegszeit wuchsen damit nicht nur Siedlungen, sondern auch Lebensentwürfe, die das Private zum höchsten Glück erklärten. Heute jedoch steht das freistehende Haus am Stadtrand sinnbildlich für eine Ökonomie, die Wohlstand in Quadratmetern misst und über die sozialen Kosten nur in Nebensätzen spricht.

    Geld friert den Platz am Gartenzaun ein

    Wer Eigentum erwirbt, braucht Kapital – wer Kapital einsetzt, erwartet Rendite. So verschiebt sich die innere Logik der Nachbarschaft: Der Gartenzaun markiert nicht mehr bloß ein freundliches „Bis hierhin und nicht weiter“, sondern wird zur dünnen Linie, jenseits derer jeder Satz über die Abwassergebühr oder den Busfahrplan sofort als Eingriff in den privaten Vermögenswert gelesen wird. Man hüpft nicht mehr zur spontanen Grillrunde hinüber, man verhandelt Nutzungsrechte. Man denkt in Verkehrswertsteigerung, nicht in gemeinsamem Spielplatz.

    Das mag zugespitzt klingen, doch Zersiedelung ist keine rein geographische Kategorie – sie zersiedelt auch das Miteinander. Je weiter die Häuser auseinanderstehen, desto seltener die zufällige Begegnung, desto häufiger das Auto, das das Halböffentliche ersetzt. In der Summe verteuert das Modell Eigenheim die Infrastruktur, verdoppelt den Energieaufwand pro Kopf und isoliert die Menschen in ihren „Investments“. Sie nennen es Sicherheit – doch oft bedeutet es nur, dass die Angst ums Vermögen jede politische Idee verdächtig erscheinen lässt, die den Bodenpreis auch nur infrage stellt.

    Neoliberale Sehnsucht nach den letzten Zäunen

    Die 1990er Jahre haben dieses Modell auf die Spitze getrieben. Die große Privatisierungswelle verkaufte kommunale Wohnungen und versprach, der Markt werde das schon regeln. Das Ergebnis: Boden wurde zur Wertanlage, nicht zur Grundlage des Lebens. Die Finanzkrise 2008 tat ihr Übriges; seitdem fließt Geld, das keine Rendite mehr in Industrie oder Technologie findet, in Betongold. Der Traum vom Eigenheim verwandelte sich in ein globales Finanzprodukt – gehätschelt von Steuervorteilen, hypothekarisch befeuert, politisch verhätschelt.

    Doch wo Märkte versagen, schützen sie plötzlich nicht mehr die Eigenverantwortung des Einzelnen, sondern nur das Eigentumsprivileg. Wer heute Hausbesitzer*in ist, verteidigt unbewusst eine Ordnung, in der „mein Grund“ wichtiger scheint als „unser Grundsatz“. Dabei riecht die Gegenwart längst nach Umbruch: Städte, die kaum noch Lehrerinnen und Pfleger anziehen können; Kommunen, die ihre Flächenziele beim Klimaschutz verfehlen; junge Familien, die den Kredit für die Doppelhaushälfte eher als Drohung denn als Traum empfinden.

    Öffentliche Häuser, öffentliche Hoffnungen

    Es flackern Alternativen auf. Wien zeigt mit seinem gigantischen Bestand an Gemeindebauten, wie sich Mieten halbieren lassen, ohne dass Lebensqualität schrumpft. In Deutschland erfinden Genossenschaften und Syndikate neue Eigentumsformen, bei denen Häuser dem Markt entzogen werden – unverkäuflich, nicht vererbbar, dafür dauerhaft leistbar. Jede solche Initiative ist weniger kühne Utopie als Erinnerung daran, dass Wohnen ursprünglich Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge war, keine Excel-Kategorie für Pensionsfonds.

    Mag sein, dass die Rückkehr des Staates in die Baupolitik manchen nach Planwirtschaft riecht. Doch wer die Kosten externalisiert – Landfraß, Pendel-CO₂, zerbröselnde Innenstädte –, hat bereits eine versteckte Planwirtschaft, nur eben zugunsten des Privateigentums. Die überfällige Frage lautet: Was ist uns wichtiger – das Versprechen steigender Bodenrenditen oder das Versprechen einer Stadt, in der man sich ohne Terminkalender begegnet?

    Ein anderer Begriff von Wohlstand

    Vielleicht endet der Neoliberalismus nicht in einer großen ideologischen Explosion, sondern im leiseren Eingeständnis, dass Glück sich nicht in Portfolio-Apps messen lässt. Dann wird das Gespräch über Wohnen wieder zu einem Gespräch über Zeit, über Nähe, über das Recht auf Überraschung im Alltag. Es wird darum gehen, ob die Kinder auf der Straße Murmeln tauschen dürfen, statt sich in umzäunten Vorgärten zu verstecken; ob ältere Menschen auf einer Bank sitzen, die nicht der Rendite, sondern der Redseligkeit dient.

    Und wenn irgendwann wieder ein Maklerfenster lockt, mag man sich erinnern: Ein Zuhause ist kein Anteilsschein, und ein Quartier ist kein Termingeschäft. Die eigentliche Dividende des Wohnens war immer der Blick in das Gesicht des anderen – und der leise Gedanke, dass wir an diesem Ort nicht Besucher, sondern Mitbewohner der Wirklichkeit sind.

  • Wohneigentum – ein blinder Fleck der Herrschaftskritik?

    Eine sozialwissenschaftlich‑philosophische Annäherung aus Sicht der Kritischen Theorie

    von Carsten Prueser

    1. Einleitung: Herrschaft unter dem Dach des Eigenheims
      Die Tradition der Frankfurter Schule versteht „Herrschaft“ nicht vorrangig als offene Repression, sondern als subtile Durchdringung von Alltagsformen, Bedürfnissen und Subjektivitäten. Wohneigentum – scheinbarer Hort von Sicherheit, Intimität und sozialem Aufstieg – erscheint in diesem Raster keineswegs neutral. Es materialisiert Besitzverhältnisse, semantisiert Freiheit und bindet Individuen an das System, das es hervorbringt. Damit wird es zu einem Schlüssel, um die Dialektik von Autonomie und Abhängigkeit in spätkapitalistischen Gesellschaften sichtbar zu machen.
    2. Privateigentum als Kern der frühen Herrschaftskritik
      Für Horkheimer, Adorno und Benjamin ist Privateigentum ein gesellschaftliches Verhältnis, das Rechte asymmetrisch verteilt und damit „objektive Gewalt“ erzeugt. Die verinnerlichte Identifikation mit dem Eigenheim stabilisiert diese Ordnung: Wer „sein eigenes Reich“ verteidigt, verteidigt zugleich die Eigentumsordnung als Ganze. Die frühe Kritische Theorie greift hier Marx’ Einsicht auf, dass „der Besitz zugleich den Besitzer besitzt“ – und kombiniert sie mit Freud, indem sie die libidinöse Besetzung des Heims als psychische Verkettung an die Kette deutet.
    3. Adorno: Die Unmöglichkeit des Wohnens
      In Minima Moralia beschreibt Adorno das Wohnen als historisch zerbrochene Erfahrung: „Wohnen, im eigentlichen Sinne, ist heute unmöglich.“ Das Haus, so Adorno, sei Vergangenheit; statt Geborgenheit liefere das Eigenheim ein „muffiges Abkommen familiärer Interessen“. In späteren Texten radikalisiert er diese Diagnose: Durch die vollständige Verwandlung von Raum in Privateigentum werde Wohnen selbst zum Fetisch – und der notwendige Ausweg bestehe darin, „zu lernen, nicht zuhause zu sein im eigenen Haus“. Herrschaft realisiert sich hier als paradoxe Figur: Das Eigentum, das Sicherheit versprach, erzeugt entwurzelte Subjekte, die ihren Verlust als Privatproblem statt als gesellschaftliche Frage erfahren.
    4. Marcuse: Das Eigenheim als eindimensionale Bedürfnisfabrik
      Herbert Marcuse analysiert in One‑Dimensional Man die „Integration durch Konsum“. Das Eigenheim steht exemplarisch für diese Integration: Hypothek, Einrichtung, Nachbarschaftsethos und suburbanes Auto‑Pendeln übersetzen widerständige Bedürfnisse in verwaltete Glücksversprechen. So wird das Subjekt in eine eindimensionale Lebensform eingeschlossen, in der politisches Begehren in Renovierungskredite und Grillabende transformiert wird. Besitz wird damit zur unsichtbaren Disziplinarmacht, die Autonomie simuliert und Konformität produziert.
    5. Habermas: Kolonialisierung der Lebenswelt durch Immobilienlogik
      Habermas verschiebt den Fokus: Nicht das Bewusstsein, sondern die kommunikativen Strukturen der Lebenswelt werden kolonisiert. Wenn Wohnen primär zur Investitions‑ und Versicherungsfrage wird, dringt ökonomische Steuerungslogik in jene Sphäre ein, in der Verständigung, Solidarität und demokratische Willensbildung verankert sein sollten. Diese Kolonialisierung zeigt sich in der Norm, dass „verantwortungsvolle Bürger“ Eigentümer sein müssten – ein Diskurs, der partizipative Bürgerrechte an hypothekenbasierte Zahlungsfähigkeit knüpft.
    6. Neoliberale Wende: Finanzialisierung und „accumulation by dispossession
      Seit den 1980er‑Jahren hat sich Wohnen vom Gebrauchsgut zum globalen Anlagevehikel entwickelt. David Harveys Konzept der accumulation by dispossession beschreibt, wie Privatisierung, Finanzialisierung und Krise systematisch Vermögen in Immobilienwerte umwandeln und damit Herrschaft neu zentrieren. Studien zur europäischen Wohnungswirtschaft zeigen, wie Pensions‑ und Hedgefonds Milliarden in Miet‑ und Eigentumsportfolios transformieren – befeuert von politischen Regimen, die „Housing as an Asset Class“ aktiv begünstigen. Hier verschiebt sich Herrschaft von der familiären Mikrostruktur zu transnationalen Finanzakteuren, ohne den zwangsförmigen Charakter zu verlieren: Schuldendienst ersetzt Miete, Renditeerwartung ersetzt Wohnbedarf.
    7. Ideologiekritik heute: Generational Wealth und moralische Aufladungen
      Gegenwärtiger Wohndiskurs verklärt Eigentum weiter als Tugend. Informationsabende preisen Hypotheken als „erzwungenes Sparen“, Eigentümer seien „demokratischer“ und sorgten für „Generational Wealth“. Die Kritische Theorie entlarvt diese Rhetorik als Herrschaftsstrategie: Moralische Aufwertung des Besitzes verschiebt strukturelle Verteilungsfragen in individuelle Verantwortung. Wer nicht kaufen kann, gilt als defizitär – ein Mechanismus, der soziale Spaltungen naturalisiert.
    8. Konstellationen von Herrschaft im Eigenheim
      Auf der subjektiven Ebene verinnerlichen Eigentümerinnen und Eigentümer ökonomische Zwänge, weil das Eigenheim als vermeintlicher Hort von Sicherheit, Status und Identität sie unablässig an Hypothekenraten und Werterhalt bindet. Sozial gerinnt Herrschaft, wenn homogene Nachbarschaften mittels NIMBY‑Politik unerwünschte Personengruppen ausgrenzen und so Raumkontrolle ausüben. Ökonomisch wirkt das Eigenheim als Disziplinarinstrument: Kredit, Wertsteigerungserwartung und immer neue Finanzprodukte verschulden die Besitzenden, während Kapitalanleger Renditen abschöpfen. Politisch schließlich schlägt sich diese Konstellation in Steuerprivilegien und einer mächtigen Eigentümerlobby nieder, die öffentliche Entscheidungen verzerrt und den gesetzlichen Rahmen zugunsten des Besitzstandes ausrichtet.
    9. Emanzipatorische Ausblicke
    • De‑Kommodifizierung: Genossenschaften, Mietshäuser‑Syndikate und kommunales Bodenrecht unterlaufen die Warenform.
    • Re‑Politisierung: Kampagnen wie „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ zeigen, wie Eigentumsfragen wieder als Machtfragen verhandelt werden.
    • Räumliche Experimente: Formen des gemeinsamen Wohnens, die Besitzlogiken aufbrechen, aktualisieren Adornos Ethik der „Nicht‑Zuhause‑heit“ als produktive Unruhe.
    1. Schluss
      Wohneigentum fungiert im spätkapitalistischen Gefüge als komplexes Herrschaftsinstrument: Es bindet Subjekte affektiv, verschuldet sie ökonomisch, homogenisiert sie sozial und bevorzugt sie politisch. Die Kritische Theorie zeigt, dass diese Macht nicht in sichtbaren Ketten, sondern in Grundrissen, Grundbüchern und Gewohnheiten wirkt. Eine befreite Gesellschaft müsste deshalb nicht nur andere Häuser bauen, sondern auch das Prinzip des Hauses – als Symbol des Mein und Nicht‑Dein – überwinden. Nur so lässt sich Adornos paradoxe Forderung erfüllen, „nicht zuhause zu sein – und doch wohnen zu können“.